Ahnenforschung: Reisen in das Land der Vorfahren boomen

In den USA hat sich ein neuer Zweig von Pauschalreisen etabliert: Nach dem Erforschen des Stammbaums will man jetzt die eigene Familiengeschichte erleben.

Zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und ein paar Generationen weiter bereits 64 Ururururgroßeltern. Schon seit Jahren boomt die Genealogie, die systematische Erforschung der eigenen Vorfahren und ihrer Familiengeschichte. Nach dem Sammeln von Geburtsdaten geht es jetzt um das Erleben von Emotion. Neben Skitouren und Walbeobachtungen hat sich in den USA eine neue Kategorie von Pauschalreisen etabliert: Heritage-Tourismus – geführte Touren in das Land der Vorfahren. 

So wollen Amerikaner die walisischen Kohleminen besuchen, wo ihre Urahnen arbeiteten, bevor sie einst den Atlantik überquerten, berichtet das Magazin The Atlantic. Bereits zwischen 2014 und 2019 stiegen Ahnenforschungsreisen laut einer Airbnb-Studie um 500 Prozent. Die Umfrage unter 8.000 Reisenden ergab zudem: Je älter die Reisenden werden, desto mehr wächst auch ihr Wunsch, ihre Wurzeln zu verstehen – im Alter von 60 bis 90 Jahren werden die meisten Reisen in die Vergangenheit unternommen.

Erinnerungen finden

Vor fünf Jahren schloss die Buchungsplattform einen Deal mit dem DNA-Testdienstleister „23andMe“ ab. Konkurrent „Ancestry“, das 24 Milliarden Datensätze für die Ahnenforschung zur Verfügung stellt, kooperiert wiederum mit einem Reisebüro. Und so funktioniert es: Sobald ein Kunde seinen Abstammungsbericht erhält, kann er sich durch passende Dependancen in den Heimatländern seiner Vorfahren durchklicken. Wenn ein Kunde etwa süditalienische Ahnen hat, kann er sich in einem apulischen Trullo (Rundhaus) einquartieren und seine Tour starten. Mittlerweile haben Länder wie Deutschland oder Schottland Webseiten eingerichtet, die beim Aufsuchen der Herkunftsorte helfen sollen. In den USA existiert ein enormes Interesse daran, den Wurzeln nachzugehen, die sehr oft nach Europa reichen. 

Der österreichische Genealoge Felix Gundacker vom Institut für Historische Familienforschung: „Amerikaner haben einen größeren Druck, Forschungsreisen nach Europa zu organisieren. Für uns Europäer sind Recherche-Reisen natürlich mit dem Auto leicht möglich. Erinnerungen findet man dort, wo die Vorfahren gelebt haben. Ich empfehle jedem meiner Kunden, das Leben der Vorfahren vor Ort nachzuzeichnen und sich unter anderem die Wohnhäuser anzuschauen.“

Ahnenforscher Felix Gundacker: "Ich empfehle jedem meiner Kunden, das Leben der Vorfahren vor Ort nachzuzeichnen.“

©Kurier/Gerhard Deutsch

Stammbäume erstellen

Seit Gundackers Recherchen über die europäische Herkunft des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten John F. Kerry im Jahr 2003 ist der Forscher weltbekannt und bekommt Aufträge für das Erstellen von Stammbäumen, jedoch: „Anfragen für betreute Reisen von Amerikanern kommen nur ganz selten vor.“ Generell gibt es zwischen Weihnachten und Ostern, zwei wichtigen Familienfeiern, immer großes Interesse an der eigenen Familiengeschichte. Die Kosten können vorab schwer beziffert werden, allerdings bietet der Experte Kostenvoranschläge an, wenn er sich einen Überblick verschafft hat. „Die Jugend hat enorm aufgeholt: Das Durchschnittsalter in meinen Seminaren sinkt, immer häufiger sind die Teilnehmer unter 40 Jahre alt. Auch Teenager interessieren sich immer öfter für die Geschichte ihrer Vorfahren.“


Herz der Ahnenforschung

Ein möglicher Grund für die Verjüngung der Genealogie könnte in der Digitalisierung liegen, die im Jahr 2010 begonnen hat, meint der Experte. Früher sei er mit dem Auto rund 70.000 Kilometer im Jahr für seine Recherchen gefahren, heute kommt er vielleicht auf 10.000. „Was die Digitalisierung von Quellen anlangt, ist Österreich absolut Vorreiter. Mittlerweile stehen uns die Tschechen um nichts nach – auch Deutschland hat aufgeholt.“ Bis zum Jahr 1938 hatten in Österreich mit Ausnahme des Burgenlandes die Religionsgemeinschaften jene Funktion, die heute die Standesämter innehaben. Die Matriken – so werden die von den Religionsgemeinschaften geführten Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher genannt – bilden daher das Herz der Ahnenforschung. Dank der Digitalisierung der Matriken kann heute leicht von zu Hause aus geforscht werden.
 

Schmelztiegel Wien

Mit 1,7 Millionen Einwohnern war Wien um 1900 eine der größten Metropolen Europas. Zum Vergleich: London zählte zu jener Zeit 4,5 Millionen Einwohner, Berlin 1,9 Millionen. Die Hauptstadt der Habsburger Monarchie erlebte eine Phase enormen Wachstums: Binnen weniger Jahrzehnte kam es durch Zuwanderung zu einer Verdreifachung der Wohnbevölkerung. 54 Prozent der Wiener waren nicht in der Stadt zur Welt gekommen. Ein Viertel der Zuwanderer stammte aus den böhmischen Ländern, die zweitgrößte Gruppe aus den österreichischen Erbländern, die größtenteils heute Teil Österreichs sind. Diese Gruppe umfasste aber auch Personen aus nicht-deutschsprachigen Gebieten wie Krain oder dem Trentino. 140.000 Menschen kamen aus der ungarischen Reichshälfte, darunter Slowaken sowie Deutsche. Weitere 100.000 übersiedelten damals von Galizien, der Bukowina sowie Dalmatien in die Hauptstadt der Donaumonarchie. 

Geführte Erinnerungsreisen

Trotz des weltweiten Trends fehlt hierzulande das Angebot von geführten Erinnerungsreisen. Anders in Deutschland: So bietet zum Beispiel das deutsche Reisebüro „Dreizackreisen“ Genealogiereisen nach Galizien (im Süden des heutigen Polens und im Westen der heutigen Ukraine) an: Bereits vor der Reise suchen Partner vor Ort nach erhalten gebliebenen Gebäuden – Kirchen, Mühlen, Wohnhäusern – der deutschen Siedler. Ein kleinerer Mitbewerber konzentriert sich wiederum auf die Berufswahl der Urahnen: So erfährt man bei seiner Reise in den Schwarzwald alles darüber, wie einst Glasträger (ein Händler, der Schwarzwaldglas auf Rückentragen oder Hutten in weit entfernte Gebiete trug) gelebt haben. Wer seine Familiengeschichte nach Stuttgart zurückverfolgen kann, kann sich in Weingärten erproben, denn die Stadt war im 16. Jahrhundert die zweitgrößte Weinbaugemeinde Deutschlands.

 

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