Ein Sommer ohne BH: Warum die Generation Z wippende Brüste zeigt

Ob Stars auf der Bühne oder junge Frauen im Straßenbild: Die Generation Z verzichtet auf Unterwäsche unter dem T-Shirt - das erinnert an die Frauen von 1968.

Bauchfreie Kleidungsstücke wie Crop Tops und Bralettes sowie Oberteile mit Spaghettiträgern gehören zu den modischen Sommertrends. Unter dem wenigen Stoff verzichten auffallend viele junge Frauen diesen Sommer auf Unterwäsche: Wippende Brüste und sichtbare Brustwarzen prägen – abseits der Freibäder – plötzlich das Straßenbild.

Begonnen hat der sogenannte "No-Bra-Trend" im ersten Pandemiejahr 2020 – nach den Lockdowns ließen deutlich mehr Frauen ihre drückenden oder pushenden Büstenhalter einfach weg.

Doris Weichselbaumer, Leiterin des Instituts für Frauen- und Geschlechterforschung an der Johannes Kepler Universität in Linz: "Als im Homeoffice abseits von Videokonferenzen keinerlei gesellschaftliche Erwartungen an das Aussehen einzelner gerichtet waren, haben viele Frauen bemerkt, dass sie nur aufgrund von gesellschaftlichen Normen einen BH tragen und ihnen der Verzicht darauf angenehm ist."

Interview Doris Weichselbaumer

KURIER: Was glauben Sie, steckt hinter dem No-Bra-Trend? Geht es darum, sich nicht der Norm anzupassen? Oder ist es ein Akt der Eigenermächtigung?

Doris Weichselbaumer: Während Corona, als im Home Office abseits von Videokonferenzen keinerlei gesellschaftliche Erwartungen an das Aussehen einzelner gerichtet waren, haben viele Frauen bemerkt, dass sie nur aufgrund von gesellschaftlichen Normen einen BH tragen und ihnen der Verzicht darauf angenehm ist. Wenn nun viele Frauen ihren BH ablegen, wird dieses Verhalten „normalisiert“. Das individuelle Handeln vieler kann damit gesellschaftliche Normen verändern. Ich denke darum geht es den Akteurinnen.

55 Jahre nach dem Miss America Contest später präsentieren sich Influencerinnen wie Chiara Ferragni oder Künstlerinnen wie Rihanna ohne BHs, es gibt einen Hashtag, auf der Straße sieht man plötzlich wippende Bewegungen unter Crop Tops: In Wahrheit eine Revolution, aber warum sprechen wir so wenig darüber?

Im Alltag wird tatsächlich viel zu viel über das Aussehen von Frauen gesprochen. Insofern ist es eventuell ein gutes Zeichen, wenn Frauen tragen können, was sie wollen, ohne dass dies medial breit diskutiert wird.

Warum lässt ausgerechnet die jüngste Generation von Frauen, die Generation Z, den BH weg?

Wir beobachten zwei gegenläufige gesellschaftliche Bewegungen: Auf der einen Seite führen soziale Medien, digitale Filter und Bildbearbeitung zu immer engeren Schönheitsidealen, die großen Druck insbesondere auf junge Menschen ausüben. Auf der anderen Seite gibt es auch Gruppen, die sich diesem Druck aktiv zu widersetzen suchen: Unter dem Begriff "body positivity" etwa wird vor allem von der Generation Z gegen unrealistische Schönheitsideale und für die Akzeptanz vielfältiger Körperformen gekämpft.

In einer Umfrage gab ein Drittel der Befragten (Frauen und Männer) an, dass Frauen, die keinen BH tragen, Blicke auf sich ziehen wollen. Jeder Fünfte sagte sogar, dass in Fällen von sexuelle Übergriffen mildernde Umstände für den Angreifer gelten sollten. Warum entsteht dieses Victim Blaming in diesem Kontext?

Welche Körperteile in einer Gesellschaft sexualisiert oder fetischisiert werden ist kulturell konstruiert und unterliegt daher auch einem gesellschaftlichen Wandel. So gilt und galt in manchen Kontexten etwa der nackte weibliche Knöchel oder die Schulter als sexuell aufgeladen und daher als zu verdecken – während die weiblichen Brust manchmal sogar zeitgleich offen gezeigt wurde. In verschiedenen indigenen Kulturen wird die nackte weibliche Brust auch heute offen getragen. Auffallend ist jedoch, dass in westlichen Gesellschaften insbesondere der weibliche Körper durch zahlreiche Normen diszipliniert wird – im schlimmsten Fall auch durch männliche Gewalt. Paradox ist dabei Folgendes: In Industriestaaten sind Frauen heute tendenziell einem "Entkleidungsdruck" unterworfen: Sie sollen ihre Körper aktiv formen und zur Schau stellen – ihre "nipples" sollen dabei aber nicht zu sehen sein. Barbie scheint hier Modell zu stehen – aber auch sie ist derzeit dabei sich zu emanzipieren.

Wenn viele Frauen ihren BH ablegen, wird dieses Verhalten "normalisiert": "Das individuelle Handeln vieler kann damit gesellschaftliche Normen verändern. Ich denke, darum geht es den Akteurinnen."

Geschichte des Büstenhalters

2.500 v. Chr.
verdecken Frauen auf Kreta ihre Brüste. In der Antike wurden Binden aus Leinen verwendet. Anfang des 19. Jahrhunderts waren einfache „Brustleibchen“ üblich

Erfinder
Hugo Schindler aus Mariaschein in Böhmen meldet 1893 einen Büstenhalter beim „Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum“ zum Patent an. Zeitgleich erfand Mary Phelps Jacob in den USA einen Ersatz für das Mieder – 1914 meldete sie das Patent an und verkaufte es für 1.500 Dollar an die Warner Brothers Corset Company

1968 Miss America
An der Demonstration anlässlich des US-Schönheitswettbewerbs nahmen 200 Feministinnen und Bürgerrechtlerinnen am 7. September in Atlantic City teil. Eine Reporterin zog den Vergleich mit dem Verbrennen von Einberufungskarten bei Demos gegen den Vietnamkrieg – so entstand der Mythos von "BH-Verbrennungen"

Eine große Studie untermauerte im Sommer 2020 das Phänomen sogar mit Zahlen: Jede fünfte Französin unter 20 Jahren gab an, auf den BH verzichten zu wollen, vor den Ausgangsbeschränkungen waren es nur 4 Prozent der unter-20-Jährigen. Laut der Umfrage war das Hauptmotiv Bequemlichkeit, aber ein Drittel der Frauen wollte mit dem Verzicht auch gegen die Sexualisierung der weiblichen Brust kämpfen.

Körperbild

In sozialen Medien wie Tiktok kreierte die Generation Z – also jene, die zwischen 1997 und 2012 zur Welt gekommen sind – Hashtags wie #nobraday oder #freethenipple. Schauspielerinnen wie Zendaya erinnern mit dem Weglassen von Büstenhaltern an einstige Ikonen wie Jane Birkin, die schon in den 60ern gerne Brustwarzen zeigte.

©Estorff / Ullstein Bild / picturedesk.com

Aber auch Influencerinnen wie Chiara Ferragni zeigen sich häufig oben ohne in spektakulären Abendkleidern.

©EPA/ETTORE FERRARI

Weichselbaumer beobachtet zwei gegenläufige gesellschaftliche Bewegungen: "Auf der einen Seite führen soziale Medien, digitale Filter und Bildbearbeitung zu immer engeren Schönheitsidealen, die großen Druck insbesondere auf junge Menschen ausüben. Auf der anderen Seite gibt es auch Gruppen, die sich diesem Druck aktiv zu widersetzen suchen: Unter dem Begriff "body positivity" etwa wird vor allem von der Generation Z gegen unrealistische Schönheitsideale und für die Akzeptanz vielfältiger Körperformen gekämpft."

Feministische Revolution 1968

Die Diskussion um das Nicht-Tragen eines Büstenhalters erinnert an das feministische Revolutionsjahr 1968. Die berühmte Verbrennung von BHs als Protest gegen das damalige Frauenbild in Atlantic City hat es zwar so nie gegeben. Dennoch warfen damals Hunderte Feministinnen während einer Miss-America-Wahl Kleidung wie Büstenhalter, Miedergürtel und Stilettos in einen großen Mistkübel. Alles, was einengte, musste weg.

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Die deutsche Soziologin Tanja Kubes kann noch keine große gesellschaftliche Bewegung wie anno 1968 erkennen: "Es wäre schön, wenn der Verzicht ein Akt der Selbstermächtigung wäre, körperliche Vielfalt fördern und nachhaltig unser Körperbild in positivem Sinne verändern würde. Beim aktuellen Trend bin ich davon allerdings noch nicht wirklich überzeugt. Wenn wir uns anschauen, welche Brüste ohne BH auf der Straße, auf Laufsteggen oder in Social Media präsentiert werden, sind das in der Regel Brüste, die sehr stark normativen Schönheitsvorstellungen entsprechen. Junge, symmetrische, feste, nicht hängende Brüste."

Schönheitsideal und Modetrend

Brüste von Rihanna oder Ferragni sind laut der deutschen Wissenschafterin Sinnbild eines aktuellen Schönheitsideals. "Der No-Bra steht nicht für Bequemlichkeit sondern für eine auf High Heels präsentierte perfekte Inszenierung der stereotypen erotischen jungen Frau im transparenten Abendkleid", so Kubes.

©REUTERS/BENOIT TESSIER

Es wäre leichter, an die No-Bra Bewegung als Selbstermächtigung zu glauben, wenn Influencerinnen, Promis und Models die Brust nicht mit dauerhaft steifen Brustwarzen präsentieren würden. Kubes: "Ein körperlicher Zustand, der stark sexualisiert ist und den man außer bei Kälte und Erregung dauerhaft nur erreicht, wenn die Brustwarzen mit Hyaluron aufgespritzt werden."

©REUTERS/Carlo Allegri/REUTERS

Kubes erinnert an das öffentliche Aufsehen, das Angela Merkel mit einem tief ausgeschnittenen Kleid im Jahr 2008 in Osloer Oper erregte und fragt sich: "Was wäre, wenn unsere Mütter und Großmütter genauso selbstbewusst nackte Brust zeigen würden? Wäre das auch von der Generation Z akzeptiert?"

©REUTERS/Scanpix Norway/reuters

Von einer Revolution wie 1968 will die Wissenschafterin daher nicht sprechen, weil der Trend eben nicht alle Menschen in ihrer ganzen Vielfalt betrifft. "Solange das nicht auch normal ist, sehe ich in der No-Bra-Bewegung erst einmal eher einen Modetrend als eine Revolution gegen die Sexualisierung des weiblichen Körpers im Allgemeinen."

Täter-Opfer-Umkehr

In der oben erwähnten Umfrage aus Frankreich gab ein Drittel der Befragten (Frauen und Männer) an, dass Frauen, die keinen BH tragen, Blicke auf sich ziehen wollen. Jeder Fünfte sagte sogar, dass in Fällen von sexuelle Übergriffen mildernde Umstände für den Angreifer gelten sollten.

Frauenforscherin Weichselbaumer erinnert daran, dass kulturell konstruiert ist, welche Körperteile in einer Gesellschaft sexualisiert oder fetischisiert werden. Und dies unterliegt einem gesellschaftlichen Wandel. In Industriestaaten sind Frauen heute tendenziell einem "Entkleidungsdruck" unterworfen: "Sie sollen ihre Körper aktiv formen und zur Schau stellen – ihre "nipples" sollen dabei aber nicht zu sehen sein. Barbie scheint hier Modell zu stehen – aber auch sie ist derzeit dabei sich zu emanzipieren."

Anita Kattinger

Über Anita Kattinger

Leidenschaftliche Esserin. Mittelmäßige Köchin. Biertrinkerin und Flexitarierin. Braucht Schokolade, gute Bücher und die Stadt zum Überleben. Versucht die Welt zu verbessern, zuerst als Innenpolitik-Redakteurin, jetzt im Genuss-Ressort.

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