June Newton in weißer Bluse und weißer Hose fotografiert ein Model in einer Abendrobe. Die Kamera verdeckt das Gesicht der Künstlerin, das Model blickt ernst

Alice Springs: Helmut Newtons Frau zeigte Gesicht

June Newton war Helmut Newtons Frau. Als Alice Springs fotografierte sie. Eine Retrospektive ist in Rüsselsheim zu sehen. Warum die Karriere mit der Grippe des Mannes begann.

Die ungesunde Kombination von Gitanes-Zigaretten und Grippe erwies sich im Fall von Alice Springs als überraschend fruchtbar.

An einem Sonntagmorgen im Jahr 1970 lag der Starfotograf Helmut Newton mit einer Grippe im Bett. „Und in Paris wartete ein junger Mann auf ihn, um Fotos für die Zigarettenmarke Gitanes zu machen“, sagte Alice Springs einmal der Vogue

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Sie bot ihrem Mann an, einzuspringen. Etwas skeptisch zeigte er ihr die wichtigsten Kameratricks. Und einen Rat soll er ihr noch mit auf den Weg gegeben haben: „Achte darauf, dass du die Sonne im Rücken hast“, heißt es. „Ich ging hin, machte das Foto, es war gut genug, um es an den Kunden zu schicken. Ich bekam den Scheck, aber auf Helmuts Namen. So fing alles an.“

Ein ernst dreinblickender Mann mit Locke und Fellmantel hat eine Zigarette im Mund: So sah das Werbesujet für die Marke Gitanes aus

Mann mit Tschick: Werbung für die Zigarettenmarke Gitanes, 1970   

©Helmut Newton Foundation

Das war der Startschuss für eine neue Karriere der australischen Theaterschauspielerin, die eigentlich June Newton hieß. Wegen der Sprachbarriere waren Engagements in Frankreich, wo sie lebte, Mangelware. Für ihre Aktivitäten hinter der Kamera legte sie sich den Künstlernamen Alice Springs zu. Ihr Mann habe gewollt, dass sie unter einem Pseudonym arbeite, sagte sie.

Alice Springs ließ Stecknadel auf Landkarte fallen

Für ihren Künstlernamen Alice Springs ließ sie mit geschlossenen Augen eine Stecknadel auf eine australische Landkarte fallen. Voilà! Damit war sie über jeden Verdacht erhaben, mit dem Namen ihres berühmten Partners Karriere machen zu wollen. In ihren Lebenserinnerungen nannte sie sich dennoch „Mrs. Newton“.

Nur wenige Jahre später schoss sie Anzeigenkampagnen oder Titelseiten für die französische Elle. Junge Frauen stöckelten leichtfüßig über die Boulevards von Paris: Nirgendwo auch nur die Spur des Lasziven, das sich als rotes Band durch die Arbeiten ihres Mannes zieht. „Stattdessen pure Lebensfreude“, schrieb die FAZ einmal.

Ihr Stil unterschied sich deutlich von dem ihres Mannes. „Er fotografiert immer die Reichen, die Bourgeoisie“, sagte June der Vogue. Während er die Fotos dramatisch inszenierte, setzte sie auf einen eher direkten Zugang. „Seine Figuren werden zu seinen Kreaturen, seinen Charakteren. Es geht überhaupt nicht um das schnelle, gestohlene Bild. Wenn man für eine Minute die Deckung fallen lässt, würde Helmut nicht im Traum daran denken, es zu nehmen“, erklärte sie.

Über ihre Arbeitsweise sagte sie einmal: „Ich habe mich jeweils bemüht, nichts an meinem Gegenüber zu verändern und seine Gedanken von der Tatsache abzulenken, dass es sich vor der Kamera befand“, sagte sie 2010 der FAZ.

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Alice Springs konzentrierte sich in ihren Menschenbildern vor allem auf die Gesichter. Meist gab es nur schmale Bildausschnitte, nur Brust- oder Viertelporträts. Accessoires fehlten meist. Nur wenige Porträts entstanden im Atelier. Im natürlichen Tageslicht oder im warmen Glanz der Wohnung fing sie das Wesen ihrer Modelle ein.

Ausstellung in den Opelvillen Rüsselsheim

Rund 200 Fotografien sind derzeit in den Opelvillen im hessischen Rüsselsheim zu sehen. Die Helmut Newton Foundation trug für ihren 100. Geburtstag – sie starb 2021 mit 97 Jahren – im Vorjahr ihre Arbeiten neu zusammen. Die Retrospektive beginnt Mitte der 1940er-Jahre und endet mit dem letzten Fotoshooting 2004.

info

Alice Springs. Retrospektive. Bis 11. August 2024, Kunst- und Kulturstiftung, Opelvillen Rüsselsheim opelvillen.de

In ihrer illustren Karriere lichtete Alice Springs so ziemlich alles ab, was Rang und Namen in der internationalen Kunst- und Kulturszene hatte: Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, Catherine Deneuve. Aber nicht nur die Größen der Mode- und Filmbranche, auch die wilden Rocker der Hells Angels ließen sich von ihr vor die Linse locken.

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June und Helmut Newton liebten es, sich gegenseitig zu fotografieren – sei es bei der Arbeit, im Urlaub oder in ihrer Wohnung, ob angezogen, nackt oder in ungewöhnlichen Outfits. Sie liebten Rollenspiele: Helmut verkleidete sich für sie als Nonne oder zog sich Pumps an und setzte sich ihren Hut auf.

Ihr gemeinsamer Bildband „Us and Them“, der Ende der Neunziger erschien, zeigt mitunter auch intime Momente. Doch June war weit mehr als nur Helmuts Frau und Kollegin – sie war seine Kuratorin, seine Muse. Als Herausgeberin seiner Bände trug sie dazu bei, sein fotografisches Erbe zu präsentieren.

June traf Helmut Newton

Als sich beide 1947 kennenlernten, besaß er ein Fotostudio in Melbourne und war vor den Nazis aus Deutschland geflohen. Sie war 24 Jahre alt und Schauspielerin. Er suchte per Annonce ein Modell, sie meldete sich. Ein Jahr später heiratete das Paar und blieb fast 60 Jahre zusammen. 2004 starb Helmut Newton im Alter von 83 Jahren nach einem Verkehrsunfall mit seinem Cadillac in Los Angeles. Der Helmut Newton Foundation mit dessen gesamten Nachlass stand sie seither als Präsidentin vor.

Warum es so wenige Frauen in der kommerziellen Fotografie gibt, wurde sie einmal gefragt. „Ja, es gab und gibt ziemlich wenige Frauen in diesem Geschäft“, antwortet sie. „Aber die meisten sind verdammt gut gewesen.“

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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