60 Jahre "Dinner for One": Wie kam es zu dem Kultphänomen?

Silvester ist nicht komplett – ohne Miss Sophie und Butler James in „Dinner for One“.

So wie letztes Jahr? Fragt Butler James. The same procedure as last year? Aber natürlich, so wie jedes Jahr, antwortet Miss Sophie: Und mit ihr intoniert halb Europa im Chor: The same procedure as every year! Der ulkige Schwarz-Weiß-Sketch "Der 90. Geburtstag oder Dinner for One" vom Briten Lauri Wylie mit Freddie Frinton als Butler James und May Warden als einsame Aristokratin Miss Sophie gehört zur Silvesternacht wie Sekt, Glücksfische und der mehr oder minder elegante Mitternachtswalzer. Vor 20 Jahren wurde das Programm, das in dieser Form am 8. Juli 1963 in Hamburg aufgezeichnet worden war, sogar ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen – als TV-Format mit den meisten Wiederholungsausstrahlungen.

Doch wie erreichte ein kurioses Theaterstück über eine englische Adelige und ihren betrunkenen Diener, der die (Trink-)Rollen vier verstorbener Freunde übernimmt, im deutschsprachigen Raum – in dem jeder Film, jede Serie, jedes Interview übersetzt wird – ausgerechnet in seiner Originalfassung derartige Beliebtheit?

Partymotto und verselbstständigte Phrase

Denn die 18-minütige Komödie (bzw. 11-minütig ohne Einleitung auf Deutsch) wird ja im deutschen und skandinavischen Sprachraum nicht nur in der Silvesternacht (mitunter mehrmals) gesendet und von manchen Theatern als Live-Aufführungen angeboten. Die Show ist Kult. 

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Es gibt sowohl ein "Dinner for One"-Trinkspiel von Ravensburger als auch Teller, Servietten und Tischkarten im Miss-Sophie-und-James-Design für die passende Mottoparty und die ikonische Phrase wird mitunter das Jahr über zu Familienfeiern oder Jubiläen ausgegraben: The same procedure as every year.

Fünf Mal, wissen wir, beantwortet Miss Sophie übrigens James’ Frage nach der Vorgehensweise. Denn alles wurde in diesem Sketch bereits analysiert. Elf Mal stolpert James über den Tigerkopf (der angeblich von einem Bürgermeister hineinreklamiert wurde). 

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Ja, sogar die Rezepte des viergängigen Menüs können nachgekocht werden (Mulligatawny-Fischsuppe zur Vorspeise, gefolgt von Nordsee-Schellfisch als ersten und Huhn als zweiten Gang und Obst als Nachspeise). Die Getränkeeinheiten von Butler James sind abgezählt (Es sind 16. Jeweils vier Gläser mit Sherry, Weißwein, Champagner, drei Gläser Portwein und ein Blumenwasser.) Vergangenes Jahr berechnete die Bild den wahrscheinlichen Alkoholisierunggrad von Butler James: 2,1 Promille, wenn man sein Körpergewicht auf 85 Kilogramm schätzt und den Prozentsatz der jeweiligen Getränke sowie die Anzahl der Gläser in Betracht zieht; eine Frau mit 69 Kilo hätte drei Promille. In Schweden war der Sketch wegen seiner Alkohollastigkeit bis 1969 übrigens verboten.

Briten sind nicht amüsiert 

Doch das vielleicht Skurrilste: Während halb Europa den angetrunkenen, torkelnden englischen Butler kennt, ist er den Briten meist gar kein Begriff. Rainer Stollman, Professor vom Institut für Filmgeschichte an der Universität Bremen, wundert das nicht: "Er ist zu nah an ihren Sünden."

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Ein Admiral habe für die Seemacht England einen anderen Beigeschmack als für Deutschland; Mr. Pommery sei ein "blasierter englischer Langweiler", Sir Toby – in Anspielung an Shakespeares As you like it – ein adeliger Trunkenbold und Mr. Winterbottom soll wohl auf einen nicht sehr erfolgreichen Trainer der englischen Nationalmannschaft anspielen, analysiert Stollman in seinem Buch "Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung". Dazu kann das Tigerfell als kolonialistische Mahnung verstanden werden. Schätzungen zufolge sollen unter britischer Kolonialherrschaft in Indien rund 80.000 Tiger getötet worden sein.

"Warum ist Deutschland besessen von diesem obskuren britischen Film?", fragte Sky News im Jahr 2018, als das Kabinettstück erstmals zu Silvester im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. 70 Jahre nach der Erstaufführung. Diese hatte 1948 im Londoner York Theatre stattgefunden. Danach war es über die Jahrmärkte der Südküste getourt und vom deutschen Entertainer Peter Frankenfeld entdeckt und nach Deutschland gebracht worden.

König Charles witzelte

Mittlerweile ist England aber doch ein wenig stolz auf das Exportprodukt. Bei seinem diesjährigen Besuch in Deutschland sorgte König Charles laut Daily Mail für Gelächter im Publikum, als er beim Abendessen im Schloss Bellevue die Show erwähnte. Vor Gästen wie der früheren Kanzlerin Angela Merkel scherzte er: "Es ist nett von Ihnen allen, dass Sie mich nicht mit einem ,Dinner for One’ allein gelassen haben!"

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Aber warum funktioniert der Sketch nun in Mitteleuropa so gut? "Das England, das wir lieben, ist das der vergangenen Zeiten", sagt die in London lebende Wissenschaftlerin Maren Thom. "Downton Abbey, Upstairs Downstairs. Wir erlauben uns in einer Nostalgie zu schwelgen, zu sagen: Ach, wie schön war das! Weil wir wissen, dass diese Zeit vorbei ist."

Gegen den Faschismus 

Dazu kommt für Rainer Stollman noch ein anderer Grund, der speziell für jene Nation gilt, die den Sketch so popularisierte. "Das Deutschland der Nachkriegszeit saß in einem zerstörten Land, hatte die Schuld des Genozids auf sich geladen und musste befürchten, dafür bestraft zu werden." Es war also in der Notwendigkeit eines befreienden Lachens. Denn, ergänzt er: „Lachen ertönt, wenn eine Angst vergeht." Doch der Schrecken der Nachkriegszeit war zu schrecklich, um weggelacht zu werden. Und so kann in "Dinner for One" vielleicht eine Ersatzhandlung, ein Auswegsventil gesehen werden. 

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Über den englischen Sketch, der nichts mit der eigenen Vergangenheit, noch nicht einmal mit der eigenen Sprache zu tun hatte, konnte in der Zurückgezogenheit der eigenen Wohnzimmer so richtig gekudert werden. Dazu kommt die Botschaft an den Westen, auf den geschielt wurde: "Wir können über englischen Humor lachen!"

Wahrlich faszinierend ist, dass der Sketch nicht nur die Nachkriegsgeneration amüsierte, sondern auch weitere Generationen. Längst ist das Stück zum Familienritual geworden. Es geht nicht mehr darum, alles zu verstehen, auch nicht darum, zu bewerten, ob man es persönlich lustig findet. Man schaut und lacht, weil das eben dazugehört. Irgendwann, vermutet Stollman, wenn diese Tradition keinen Nutzen mehr erfüllt, wird sie wohl verblassen. Doch bis dahin gilt: The same procedure as every year.

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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