Warum wir "zwischen den Jahren" das Zeitgefühl verlieren

Welcher Tag ist heute? "Zwischen den Jahren" lässt sich das meist nicht so schnell beantworten. Ein Forscher erklärt, warum das positiv ist.

Der Mensch ist am glücklichsten, wenn er nicht merkt, ob die Zeit langsam oder schnell vergeht. Das Zitat des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew lässt sich perfekt auf die Tage nach Weihnachten und vor Silvester umlegen.

Irgendwo zwischen Keks-Koma, Harry-Potter-Marathon und dem Schmökern in geschenkten Büchern kommt vielen das Gefühl für Uhrzeit und Wochentag abhanden. Freie Tage werden nur durch einzelne Fenstertage unterbrochen, die Büros sind halb leer, der Alltag stagniert. Man oszilliert "zwischen den Jahren", wie die kurze Periode genannt wird.

Pandemie-Gefühl

Befasst man sich mit Zeitwahrnehmung, landet man schnell bei Marc Wittmann. Der Humanbiologe forscht am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg als einer der wenigen Experten dazu, wie Zeit in verschiedenen Kontexten empfunden wird. Vorweg: Spezielle Studien zur Orientierungslosigkeit zwischen den Jahren gibt es nicht – es handelt sich also mehr um ein kollektives Gefühl als um ein wissenschaftliches Faktum.

Marc Wittmann ist Zeitforscher in Freiburg

©Privat

Aber eines, das sich mit anderen Lebenssituationen gut erklären lässt, führt Wittmann aus. "Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit kennen wir aus dem Urlaub oder auch von der Covid-Pandemie. Auch in der Weihnachtszeit haben wir keinen strukturierten Alltag." 

Plötzlich löst sich nicht nur die gewohnte Struktur Montag bis Freitag und dann Wochenende auf, sondern auch private Termine wie die wöchentliche Yoga-Stunde, der Stammtisch oder Musikunterricht. "Man hat interne kleine Strukturen, die dafür sorgen, dass man eine gute Zeitorientierung hat – das fällt nun komplett weg."

Als besorgniserregend würde er das temporäre Taumeln zwischen Zeit und Raum aber nicht einstufen – im Gegenteil. Eine starke Zeitorientierung sei symptomatisch für Anstrengung und Stress. "Wir orientieren uns daran, weil wir wissen wollen, wie viel Zeit wir noch haben, um etwas zu erledigen. Das Verlieren der Zeit bedeutet daher, dass wir entspannt sind. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir uns so hineinfallen lassen können in die freien Tage."

Tage ohne FOMO

Für weniger Druck sorgt auch, dass die meisten Familienfeiern nun absolviert sind. Witterung und Lichtverhältnisse spielen ebenfalls eine Rolle: Während in der Sommerzeit viele mit "fomo" (fear of missing out) kämpfen, verpasst man bei einem Sonnenuntergang um 16 Uhr abends nicht mehr viel.

Nach dem 1. Jänner könnte man sich langsam wieder auf den strukturierten Alltag vorbereiten, rät Wittmann: Alkoholkonsum reduzieren, früher aufstehen und ins Bett gehen, in einen gewohnten Rhythmus finden. Vielleicht sogar über die Umsetzung erster Neujahrsvorsätze nachdenken.

Bis dahin empfiehlt der Forscher: "Einfach genießen." Das Hamsterrad beginnt sich in der Regel wieder früh genug zu drehen.

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