Warum stellen wir uns immer dort an, wo schon eine Schlange steht?

Fragen der Freizeit ... und Antworten, die euch überraschen werden.

Eine riesige Schlange am Flughafenschalter. Der Nebenschalter ist frei. Die junge uniformierte Frau dahinter nutzt die Zeit, um einen eingerissenen Nagel zu feilen, dann widmet sie sich einem Stapel höchstwichtiger Papiere, die sie mit großer Akribie durchblättert und ein paar Zentimeter vom ursprünglichen Platz entfernt neu positioniert. Jeder Neuankömmling schiebt seine Koffer ans Ende der bestehenden Schlange, reiht sich mit melancholischem Gesicht ganz hinten ein. Warum eigentlich? Warum beansprucht niemand den leeren Platz für sich? Sogar im Supermarkt kommt es vor, dass – wenn nicht zuvor jemand  „zweite Kasse!“ gebrüllt hat –  die Kassierin an der neuen Kasse „Sie können auch zu mir kommen!“ rufen muss. Oder auf der Autobahn. Wenn alle auf der linken Seite im Stau stehen, reiht sich jeder neue Wagen krampfhaft ebenfalls links ein, obwohl die rechte Spur frei ist.

Wann immer du eine Schlange siehst, stell dich an – es könnte sich lohnen, lautete ein altes Ostblock-Sprichwort. Trifft das auf uns alle zu?

In gewisser Weise. „Was die Masse macht, kann so falsch nicht sein, und wenn die Masse irrt, dann sitzen wenigstens alle im selben Boot“, erklärt der deutsche Evolutionspsychologe Benjamin Lange dieses Phänomen, das wir als Herdentrieb aus dem Tierreich kennen. „Für ein Gnu wäre es ausgesprochen dumm, beim Angriff eines Löwen allein nach Westen zu rennen, wenn die ganze Herde nach Osten flieht. Und ebenso riskant sind einsame Entscheidungen für Menschen. Niemand liegt gern als Einziger falsch, und steht am Ende wie ein Depp da“, sagt Lange.

Schock am Flughafen: Eine Mutter zerrt ihren Sohn hinter sich her und geht auf die Frau hinter dem freien Schalter zu, zögerlich gefolgt von ihrem Mann, der einen Arm um das vor seinen Bauch geschnallte Kleinkind legt, als wollte er es vor den Blicken der Schlangensteher schützen. Diese Familie sind die Gnus, die in die andere Richtung rennen, und alle in der Schlange wünschen sich, dass sie reumütig in die Gruppe zurückkehren müssen. Ganz hinten. Endlich blickt die uniformierte Frau von ihrem Papierstapel auf. Sie lächelt – und checkt die Koffer der Familie ein.

Frage der Freizeit

Hier schreiben Autoren und Redakteure abwechselnd über Dinge, die uns alle im Alltag beschäftigen.

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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