Chemnitz, Zwickau, Erzgebirge: Eine Region will gesehen werden

Chemnitz will im Kulturhauptstadtjahr 2025 zeigen, dass es mehr als Probleme zu bieten hat. Darum ist sie wie Zwickau und das Erzgebirge einen Besuch wert.

Infos

Anreise

Mit dem Auto dauert die Fahrt von Wien über Tschechien nach Chemnitz rund sechs Stunden.  Zum rund 90 Kilometer entfernten Flughafen Leipzig bietet Austrian einen Nonstop-Flug ab Wien an.  

Anreise mit dem Zug

Mit dem Zug dauert die Anreise nach Chemnitz mindestens 7 Stunden 50 Minuten. Bei   Verbindungen über Bayern heißt es zwei Mal umsteigen. Es gibt auch eine Verbindung über Tschechien mit Umstieg in Dresden.   

Um Chemnitz’ Außenwirkung ist es nicht gerade gut bestellt. Die sächsische Stadt gilt als Hort Rechtsextremer. Als traurig bezeichnen sie manche, weil sie an ein im Krieg zerbombtes Zentrum, verfallene Industriehallen und DDR-Architektur denken. Aber gerade tut sich einiges: Chemnitz und mit ihr die Region Erzgebirge und die Stadt Zwickau bereiten sich auf die Europäische Kulturhauptstadt 2025 vor.

Das macht sich bemerkbar. „Schon jetzt kommen Menschen und sagen: ‚Wow, es ist gar nicht so schlimm hier‘“, sagt Stefan Schmidtke. Der Mann mit weicher Stimme ist in der Nähe aufgewachsen, er hat für die Kulturhauptstadt Tallinn 2011 gearbeitet, war Schauspielchef der Wiener Festwochen und ist nun Geschäftsführer der „Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH“.

Bei der Bevölkerung selbst sei eine enorme Erwartungshaltung da. „Die Stadt hat in den vergangenen Jahrzehnten Zigtausende Einwohner verloren. Nach der Verkündung des Zuschlags wurde zwei Wochen durchgefeiert. Es war das Größte seit der Wiedervereinigung, neben der Rück-Umbenennung von Karl-Marx-Stadt.“ Wichtiges Ziel sei, gesehen zu werden. Das Motto heißt nicht umsonst „C the Unseen“, also das Nicht-Sichtbare beziehungsweise Chemnitz entdecken.

Kunst, Freiräume, Karl-Marx-Kopf

Was Besucher bereits jetzt zu sehen bekommen, ist durchaus spannend. Gebäude der neuen Sachlichkeit etwa. „In den 1920ern war Chemnitz eine der reichsten Städte Deutschlands“, sagt Anja Richter. „Das hat sich auf die Kunst ausgewirkt, es war ein spannender Ort. Ernst Ludwig Kirchner verbrachte seine Kindheit und Jugend in Chemnitz. Erich Heckel war hier schon vor Dresden aktiv.“ Richter ist Kuratorin der Sammlung Gunzenhauser, die im ehemaligen Sitz der Sparkasse angesiedelt ist. Das reduzierte, außen mit hellen Steinplatten versehene Gebäude beherbergt eine große Sammlung der klassischen Moderne – darunter gar 380 Werke von Otto Dix.

Das Stadtbad ist in seiner Schlichtheit bombastisch. Architekt Henry van de Velde erhielt hier seinen ersten Auftrag in Deutschland. Er entwarf für die Industriellenfamilie Esche, die Edvard Munch für Familienporträts nach Chemnitz kommen ließ, eine beeindruckende Villa. Heute ist sie ein Museum mit Restaurant, das zu den besten der Stadt zählt.

Chemnitz war führend im Stil der Neuen Sachlichkeit – zu sehen am imposanten Stadtbad.

©Ernesto Uhlmann

Dazu ist Chemnitz eine grüne Stadt mit Parks und Bäumen. Die Industriellen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erkannten, dass die Arbeiter keinen Moloch, sondern Luft brauchten. Heute gibt es eine lebendige Kulturszene – das Umfeld der Band Kraftklub („Ich will nicht nach Berlin“) betreibt etwa den Club Atomino.

Und dann ist da der „Nischel“, wie das bekannteste Wahrzeichen bei den Einheimischen heißt: der 7,1 Meter (mit Sockel 13 Meter) hohe und 40 Tonnen schwere Dickkopf von Karl Marx. Der Bronzeschädel gilt als zweitgrößte Porträtbüste der Welt. Nur ein Lenin-Kopf in Ulan-Ude ist etwas größer.

Der Karl-Marx-Kopf und viel Industrie prägen das Bild Chemnitz‘.

©Ernesto Uhlmann

Gegenüber stehen Stadthalle und das ehemalige Hotelhochhaus „Kongreß“, das die Einheimischen aufgrund der wenig schmucken Fassade „Schnarchsilo“ genannt haben. Eigentlich hätte es mit weißem ungarischen Beton bestückt werden sollen, aber dafür reichte das Geld im DDR-Musterort Karl-Marx-Stadt nicht. Die sollte auch gar nicht so heißen. Der Name war zu Marx‘ 70. Todestag für das aus dem Boden gestampfte Eisenhüttenstadt vorgesehen. Aber just zur Zeit der geplanten Umbenennung starb der Diktator Josef Stalin – Eisenhüttenstadt wurde als wichtige sozialistische Stadt zu Stalinstadt. Marx ging auf Chemnitz über.

➤ Hier mehr lesen: Wie ein Nackerter und der Froschkönig ins Café Landtmann kamen

Die Büste ist die meistfotografierte Sehenswürdigkeit der Stadt – die kennt man aus Chemnitz. Wie leider auch die Ereignisse aus dem Jahr 2018. Damals war ein Mann auf dem Stadtfest niedergestochen worden. Rechte und Rechtsextreme marschierten daraufhin mit „Menschen aus der Mitte“ durch die Stadt und griffen Migranten an. Der wütende Mob schaffte es auf die Titelseite der New York Times – nichts, das man sich wünscht. Dass Chemnitz den Kulturhauptstadt-Zuschlag bekam, hat auch damit zu tun. Berichte über No-Go-Zonen, wie sie durch Medien kursieren, kann Kulturhauptstadt-Chef Schmidtke nicht teilen, auch wenn es immer noch zu Übergriffen kommt. „Seit 2018 gibt es diese Gegenden nicht mehr.“ Denn der Staatsschutz habe nun ein verstärktes Auge auf die Umtriebe.

 Die Stadthalle im Zentrum der Stadt. Hier ist oft viel los. Im Hintergrund das Hotel, das die Einheimischen „Schnarchsilo“ nannten. Gegenüber (nicht im Bild) befindet sich die große Karl-Marx-Büste.

©Ernesto Uhlmann

Er selbst wohne am Sonnenberg, wo sich Mitglieder der rechtsextremen Terrorgruppe NSU versteckten. Heute würden hier Kreative und Migranten zuziehen. „Es gibt Lebensmittelgeschäfte wie in Neukölln in Berlin oder im zehnten Wiener Bezirk.“ Schmidtke spricht davon, dass das Angebot der Kulturhauptstadt in die Breite gehen soll – Menschen, die man sonst nicht erreicht, sollten sich denken: „Wow, das ist Kultur. Wenn wir das schaffen, wächst die Quantität jener, die gute Laune haben. Und die Zahl jener, die schlechte Laune haben, nimmt ab.“

Neue kreative Areale entstehen

In die Breite gehen auch die von der Kommune geförderten Interventionsflächen. Das sind brachliegende Industrieareale, die 2025 und darüber hinaus kreativ bespielt werden. Ein Ort ist der riesige Garagen-Campus, eine stillgelegte Straßenbahn-Remise, in der sich in einem kleinen Teil ein Verkehrsmuseum befindet. Der größere Teil wartet noch auf Nutzung. Hier führt Kulturwissenschaftlerin Tina Winkel, die schon bei der Kulturhauptstadt in Linz 2009 mitgearbeitet hat, ihre Besucher mit Bauhelm durch das große Areal.

Noch stehen Gerüste, aber die Ideen, was hier passieren wird, entstehen jetzt. „Die Menschen aus der Nachbarschaft sind extrem neugierig, Gruppen und Vereine haben zueinandergefunden, die haben sich vorher gar nicht gekannt. Wir bekommen sehr viele Vorschläge.“ Wenn die Bauarbeiter weg sind, findet das Treiben in einer Umgebung mit Industriecharme statt, den es in dieser Geballtheit selten gibt.

Die Industrie prägt das Bild von Chemnitz.

©Ernesto Uhlmann

„Die Industrialisierung setzte hier vor dem Ruhrgebiet ein“, erklärt Schmidtke. Die Rohstoffe kamen aus der Umgebung, etwa dem Erzgebirge. Die Region soll mit dem Purple Path, einem Kunstpfad, an die Stadt angebunden werden. Ein früheres Sprichwort über Sachsen, das man hier immer wieder hört, lautet: „In Chemnitz und Zwickau wird das Geld verdient, in Leipzig wird es gehandelt und in Dresden verprasst.“

Zwickau ist Idylle und Autos

Das 50 Kilometer entfernte Zwickau hatte als Bergarbeiterstadt den wenig schmeichelhaften Namen Ruß-Zwicke. Das ist vorbei. Heute präsentiert sich Zwickau picobello herausgeputzt – mit mittelalterlichen Priesterhäusern, mit pittoreskem Theater, dem Geburtshaus des Komponisten Robert Schumann.

Keine Rede mehr von „Ruß-Zwicke“. In der herausgeputzten Zwickauer Innenstadt steht das Gewandhaus, heute ein Theater 

©mauritius images / age fotostock / Peter Schickert/age fotostock / Peter Schickert/mauritius images

Und auch wenn in der Stadt mit nicht einmal 100.000 Einwohnern eine Straßenbahn fährt und idyllisch wirkt – Zwickau ist vor allem Autostadt. Hier ließ August Horch seine Premium-Wagen Horch fertigen, 1909 gründete er Audi, das 1932 mit anderen sächsischen Automobilherstellern wie DKW und Wanderer in der Auto Union aufging. Die Linkslenkung wurde auch in Zwickau erfunden. Der Grund dafür liegt in der praktischen Natur: Beim Ausparken sehen die Menschen hinterm linken Lenkrad den kommenden Gegenverkehr viel früher als jene hinterm rechten. Und in der DDR-Zeit wurden hier die Trabis gefertigt. Mangels Blech kamen die Ingenieure auf die Idee, für die Karosserie Baumwollfasern minderer Qualität mit Phenolharz zu kombinieren – die „Plaste“ war geboren. Heute fertigt VW seine Elektromotoren in der Stadt.

Das (und noch viel mehr) wird im August Horch Museum erzählt. 160 Großexponate gibt es auf 6.500 m² in der ehemaligen Fertigungsstätte zu sehen. Das Museum ist nicht nur etwas für eingefleischte Autofans. Die Fahrzeuge sind in Alltagssituationen eingebaut – so erzählt ein Tankwart aus dem beginnenden 20. Jahrhundert eine Schnurre über einen über die neue Technik fluchenden Fahrer, der statt Benzin Wasser in den Tank geleert hat. Auf einer Renntribüne erleben die Besucher die Geschwindigkeitsjagd der Audi-Rennautos in den 1930ern. Und im Garten einer Datsche steht vor dem Holzhaus ein Trabi – mit Zelt am Dach für das richtige Ferienerlebnis.

Zwickau ist Autostadt: Hier ließ August Horch fertigen, in der DDR-Zeit baute man Trabis. Heute gibt es in der Fertigungsstätte ein großes Museum

©Foto-Atelier LORENZ

Das wollte auch der sächsische Herrscher August von Sachsen und ließ sich in der Renaissance in Augustusburg im Erzgebirge ein Lustschloss errichten, das alle Stückerl spielt. Besonders beeindruckend ist dort das Brunnenhaus mit einem 130 Meter tiefen Schacht. Wilddiebe mussten sechs Tage pro Woche unter der Erde verbringen und graben, um Wasser zu finden. Doch der Boden war hart – nur vier Zentimeter Gestein pro Tag schafften sie. Heute wartet dort unten ein Geist auf Führungen und kommuniziert per grünem Licht mit den Menschen. Und UNESCO-Welterbe als Symbol für die Montanregion ist der Brunnen außerdem.

Das Lustschloss Augustusburg gilt als die Krone des Erzgebirges

©mauritius images / imageBROKER / Sylvio Dittrich/imageBROKER / Sylvio Dittrich/mauritius images

Die Bergleute aus finsteren Stollen des Erzgebirges prägten mit ihrer Sehnsucht nach Licht auch die Liebe zu Weihnachten – hier muss man im Advent herkommen, sagen viele. In ihrer kargen Freizeit schnitzten sie die für die Region so typischen Engel und Bergmänner, die sich mit Kerzen bestücken ließen. Einer, der vor dreißig Jahren die Figurenbranche revolutioniert hat, ist Björn Köhler. „Ich habe sie wie Comicfiguren gestaltet, und vom Design reduziert. Das hat nicht allen gefallen.“

Die Menschen aus dem Erzgebirge lieben Weihnachten und Weihnachtsfiguren. Björn Köhler hat die Branche revolutioniert und stylische Männlein gestaltet.

©Björn Köhler/Kunsthandwerk

Heute kommen Sammler gar aus dem designaffinen Skandinavien, um seine Handschmeichler-Figuren zu kaufen, die er in einer revitalisierten Fabrik herstellt. Wer ihn besucht, sollte Zeit mitbringen, er hat viel herzuzeigen. Wie die ganze Region, die gesehen werden will.

Wussten Sie, dass?

… das Maskottchen des Basketballvereins Chemnitz 99ers Karli Marx heißt? 
… die erste Ampelfrau der Welt seit 2004 in  Zwickau leuchtet? Heute sind Geschlechtsgenossinnen auch in Leipzig, Bremen oder Kassel aktiv.
… aus Chemnitz der Vorläufer für die Thermoskanne, das erste vollsynthetische Feinwaschmittel (Fewa)  und die vier ineinander verschlungenen Ringe der Auto Union – heute Audi – stammen?    

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

Kommentare