Orgasmus im Konzertsaal: Warum Musik Hochgefühle auslösen kann

Die seltsame Geschichte jener Frau, die während eines Konzerts einen Ganzkörperorgasmus hatte - und was eine Symphonie damit zu tun hat.

"Frau hatte Orgasmus im Konzertsaal“: Eine Ah- &-Oh-Schlagzeile, die unlängst durch die Online-Medien geisterte. Wie die Los Angeles Times berichtete, ertönte während der Symphonie Nr. 5 von Tschaikowski plötzlich lautes Stöhnen. Manche taten überzeugt: Die Gute habe einen Höhepunkt! Andere hielten dagegen: Das sei ein medizinischer Notfall! Für Ersteres sprechen Augenzeugen, die die Entzückte gesehen haben wollen, wie ihr Partner sie liebevoll anlächelte, während sie schwer atmete. Der US-amerikanische Musikproduzent Magnus Fiennes, ebenfalls im Konzert, beschrieb den Vorfall auf Twitter als "lauten Ganzkörperorgasmus". Amüsante Geschichte, die zwei Fragen aufwirft: Was genau ist ein Ganzkörperorgasmus? Und kann Musik einen Höhepunkt auslösen?

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Nun, so ein "Rundum-all-inclusive-Orgasmus" ist sehr speziell, man könnte sagen: ein privates Weltereignis. Dabei wird der gesamte Körper mit Wärme geflutet und einer Art "Verzückung" jenseits der Genitalien. Good Vibrations, überall: Die Zehen kringeln sich ein, Energie flutet wie auf einer erogenen Daten-Autobahn dahin. Manche Menschen kennen das aus der tantrischen Praxis – als reine Übungssache, die u. a. mit tiefem Bauchatmen und bestimmten inneren Vorstellungen verknüpft ist. Man spannt bewusst an, lässt los, lässt geschehen, statt auf etwas hinzuarbeiten. Visualisierungen helfen da ebenso wie – ja, genau: Musik. Womit wir bei der Beantwortung der zweiten Frage wären: Ja, bestimmte Melodien können intensive körperliche Gefühle auslösen, die dem Orgasmus ähneln. Das wurde wissenschaftlich untersucht, ein Beispiel: Vor Jahren hat die damalige Studentin Psyche Loui (heute Psychologin und Neurowissenschaftlerin) begonnen, dieses Phänomen zu erforschen. Vor allem, weil sie es selbst erlebt hat: Als sie bei einer Freundin Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 hörte, empfand sie plötzlich intensive Körpergefühle. Ein Magenflattern, schnellen Herzschlag, ein Kribbeln entlang der Wirbelsäule.

"Meine Wirbelsäule prickelt"

Dass Musik Menschen in ungeahnte Dimensionen beamen kann, davon ist auch Michael Spitzer, Musikprofessor an der University of Liverpool, überzeugt. Unter dem Titel "Musik und Sex" fasst er sein Wissen zusammen – Einleitung: "Kann Musik einen Orgasmus auslösen? Die kurze Antwort ist: ja." In Folge schwärmt er von Whitney Houstons "I Will Always Love You" – ein Song, der ihn offenbar mitten ins Herz (und sonst wo) trifft und dessen Hörerlebnis er so beschreibt: "Mein Herz rast, meine Wirbelsäule prickelt, ich ringe nach Luft und fühle Schauer am ganzen Körper. Manchmal bekomme ich Hitzewallungen." Ähnlich ginge es ihm bei manchen "Mozart Arias". Da bekommt das Wort "Notenständer" auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Psychologen haben jedenfalls einen Namen für das Körpergefühl nach Noten gefunden: Hautorgasmus, oder: "Frisson" für "Schauer". Beim Lauschen werden Regionen im Gehirn aktiv, in denen das Glückshormon "Dopamin" eine Hauptrolle spielt. Als Neurotransmitter, der auch bei Drogenkonsum, Rauchen, Schokoladeessen und Sex ausgeschüttet wird und glücklich macht. Bestimmte Musiksequenzen haben eher das Zeug, orgasmisch zu wirken – es sind vor allem die spontanen Wechsel in der Tonfolge, die ein Prickeln auslösen, auch Sprünge von piano zu forte, alle überraschenden Momente. Und so wundert’s nicht, dass es mittlerweile zahlreiche Playlists mit Orgasmuspotenzial gibt. Forscherin Loui hat seinerzeit ebenfalls kundgetan, welche Songs speziell unter die Haut gehen, zwei ihrer Favoriten: "Someone like you" von Adele und "Wonderwall" von Oasis.

Sehenswert

In der sechsteiligen Instant-Serie „Watch me – Sex sells“ wird das neue Phänomen  digitaler Plattformen wie „OnlyFans“ – bekannt als  „Instagram für erotische Inhalte“  – beleuchtet. Um herauszufinden, was die Digitalisierung und neue Niedrigschwelligkeit der Sexarbeit mit unseren intimsten Wünschen und unserem Verständnis von Nähe macht. Zu sehen in der ZDF Mediathek und, ab Juni, bei ZDF Neo.

Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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