
Deshalb geht Ihr Partner fremd
Wer untreu wird, hat eine schlechte Beziehung? Das ist zu einfach gedacht, sagt ein Paartherapeut – und erklärt die Psychologie dahinter.
Von Eileen Wagner
„Wissen ist Macht“, sagte einst der Philosoph Sir Francis Bacon – gemeint war: dass das Verstehen von Erfahrungen oft der Schlüssel zu wertvollen Erkenntnissen ist. Wer Erfahrungen versteht, kann daraus Erkenntnisse gewinnen. Das gilt auch für ein Thema, über das viele lieber schweigen: Untreue.
Trotzdem lohnt es sich, tiefer zu blicken, meint ein Paartherapeut: Nicht alle „Fremdgeher“ sind charakterschwach, gefühl- oder rücksichtslos. „Fremdgehen ist oft ein schleichender Prozess“, so der Berliner Paartherapeut und Kolumnist Clemens von Saldern. Die meisten Seitensprünge würden mit Alltagsgesprächen beginnen, die so intensiv werden, dass man schließlich auch emotionale oder körperliche Nähe suche. „Die Entscheidung zum Fremdgehen ist fast immer eine Abwägung zwischen Belohnung und Bestrafung“, erklärt von Saldern.
Gerade wenn es in einer Beziehung kriselt oder der Reiz des Verliebtseins nachlasse, so von Saldern, überwiege oft die Versuchung – auch, weil Hormone wie Dopamin die Kontrolle übernehmen. Der Seitensprung werde dann zu einem attraktiven Versprechen, das stärker wirke als die drohenden Konsequenzen.
Psychologen sind sich einig: Fremdgehen hat selten mit reiner Lust zu tun. „Gefühle sind die Botschafter der Bedürfnisse“, sagt von Saldern. Und diese Bedürfnisse seien vielfältig.
Ein starkes Motiv für Untreue sei die Sehnsucht nach Neuem. „Der Partner kann vieles sein – eine liebevolle Freundin, eine Geliebte und die beste Mutter für die gemeinsamen Kinder – aber eines kann er oder sie nicht sein: neu“, betont der Therapeut. Das Neue biete hier einen echten, wenn auch kleinen neurologischen Kick, erklärt von Saldern, „einen Dopamin-Impuls, der als Wohlfühlbotenstoff eine positive Reaktion auslöst, wenn wir uns mit etwas Unbekanntem beschäftigen.“
Hinzu komme gerade bei jungen Paaren oft die Angst, etwas zu verpassen – die sogenannte FOMO, die „Fear of Missing Out“. „Viele Jugendliche fragen sich: Habe ich genug erlebt? Und gehen aus diesem Gefühl heraus fremd“, sagt der Therapeut. Durch sozialen Druck und die Medien werde dieses Gefühl noch verstärkt.
Ein weiteres Motiv sei Vergeltung: „Wenn man sich schlecht behandelt fühlt, sei es durch mangelnde Zuwendung oder fehlende Sexualität, entsteht oft ein unbewusstes Bedürfnis nach Rache“, erklärt von Saldern. Eine Affäre oder ein Seitensprung werde zum Symbol: „Wie du mir, so ich dir“.
Doch der vielleicht stärkste Antrieb zum Fremdgehen ist das tiefe Bedürfnis nach Bestätigung. „In einer Affäre bekomme ich diese immer. Da bin ich toll, da bekomme ich Aufmerksamkeit – das findet jeder attraktiv“, so der Paartherapeut. Besonders wenn im Beziehungsalltag die Wertschätzung und Anerkennung des Partners fehlen und lebendige Gespräche und Erotik rar werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen fremdgehen. Laut Statista fallen 60 Prozent der Seitensprünge in diese Kategorie.
Wer es ein Mal getan hat, wird es statistisch gesehen wieder tun
Bereits in den 1990er-Jahren beschrieb der Psychologe Albert Bandura das Konzept des „moralischen Disengagements“: Menschen rationalisieren ihr Fehlverhalten, um ihr positives Selbstbild zu schützen. Neuere Forschungen sprechen vom „Self-Concept Maintenance“. Auch von Saldern beobachtet dieses Phänomen: Menschen seien sich ihres Fremdgehens und dem Fehlverhalten bewusst, aber sie verdrängen es. Er spricht von „bewusster Unbewusstheit“, um die unangenehmen Konsequenzen des Seitensprungs zu ignorieren.
Und: Wer einmal untreu war, wird es statistisch gesehen eher wieder tun. Eine Langzeitstudie der Universität Denver mit knapp 500 unverheirateten Paaren ergab, dass Personen, die einmal fremdgegangen sind, dies dreimal häufiger erneut tun.
Von Saldern sieht eine Erklärung dafür im psychologischen Kick: „Affären, neue Beziehungen oder One-Night-Stands bieten oft eine Flut an neuer Aufmerksamkeit und Bestätigung. Dieses Hochgefühl kann süchtig machen.“ Solange der Seitensprung unentdeckt bleibt, fehle oft der Anstoß zur Veränderung. Erst wenn der Seitensprung auffliege, seien die Betroffenen gezwungen, ihr Verhalten zu hinterfragen.
Auch Gelegenheit spiele eine zentrale Rolle: „Wie das Sprichwort sagt: Gelegenheit macht Diebe“, erklärt von Saldern. „Die Versuchung entsteht oft durch günstige Gelegenheiten.“ Vor allem Menschen, die von anderen als attraktiv wahrgenommen werden, seien solchen Versuchungen häufiger ausgesetzt.

„Die Entscheidung zum Fremdgehen ist fast immer eine Abwägung zwischen Belohnung und Bestrafung", sagt Clemens von Saldern,
Paartherapeut.
Doch das Fremdgehen hat Folgen – psychisch wie emotional. „Menschen, die fremdgehen, geraten oft in einen inneren Konflikt, weil sie das Gefühl haben, mehr geben zu müssen, als sie bereit sind – vor allem in Bezug auf sexuelle Erwartungen“, erklärt Paartherapeut von Saldern. Die Doppelbelastung, zwei emotionale Beziehungen zu führen, sei für viele überfordernd – genau wie die Komplexität der damit verbundenen Lügen und Täuschungen. Dies führe, so der Experte, häufig zu Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen, was nicht selten beide Beziehungen destabilisiere.
Aber auch wer treu bleibt, kann ins Grübeln geraten. Habe ich etwas verpasst? Eine große Liebe, den Seelenverwandten? „Verzicht ist auch ein Preis, den man zahlen muss“, sagt von Saldern. Sein Rat: Statt vorschnell zu handeln, sollte man in bestehenden Beziehungen den offenen Dialog suchen – gerade über unausgesprochene Wünsche oder sexuelle Bedürfnisse. „Wenn Paare im Gespräch bleiben und als ‚Komplizen‘ gemeinsam an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse arbeiten, entsteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, und niemand fühlt sich ausgeschlossen“, so sein Fazit.
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