Guido Tartarotti

Guidos Kolumne: Mick Jagger fliegt

Wir werden so alt wie die Steine, werden fast Europameister, teilen uns den Wohnraum halbtags und kommunizieren durch reine Gedankenübertragung. Telefonieren? Autofahren? Na ja.

Heute in 35 Jahren stehe ich in der ersten Reihe des Happel-Stadions und warte auf das Konzert der Rolling Stones.
Der Bau eines neuen Stadions wird seit Jahrzehnten diskutiert, ist aber immer noch nicht erfolgt. Die Politik kann sich nicht über die Finanzierung einigen. Dabei ist Österreich seit Kurzem sogar Fußball-Vize-Europameister. In einem knappen Finale haben wir gegen Deutschland 3:4 verloren. Marko Arnautovic junior hat unsere drei Tore geschossen.

Die Rolling Stones sind wieder einmal auf allerletzter Tournee. Die Musiker sind inzwischen um die 115 Jahre alt, aber dank moderner Medizin immer noch in Hochform. Mick Jagger tanzt und singt, als wäre er höchstens 105 Jahre alt. Ich kann leicht reden, ich bin ja erst knapp über neunzig.

Das Konzert beginnt wie immer mit "Start Me Up". Keith Richards ist mittlerweile zu Stein erstarrt, wird aber auf die Bühne gerollt. Dank moderner Videotechnik kann man jetzt virtuell auf der Bühne stehen und mitspielen. Mich freut das – ich habe extra Gitarre spielen geübt.

Im Stadion ist es unangenehm heiß. Der Klimawandel hat die Menschheit im Griff. Lösungen werden seit vielen Jahren diskutiert, aber nicht umgesetzt. Die Menschen leben inzwischen im äußersten Norden und im Süden. Die Bevölkerungsdichte ist so hoch, dass Wohnungen mittlerweile geteilt bewohnt werden. Die einen wohnen am Vormittag, die anderen am Nachmittag.

"Auch Bücher sind nach wie vor beliebt. Manche sagen ja, das liegt daran, dass sie so einen hübschen Raumschmuck ergeben"

Guido Tartarotti

Party mit den Ururenkeln

Im Stadion genehmige ich mir ein Ozonbier. Es enthält natürlich keinen Alkohol, dafür aber alle wesentlichen Nährstoffe. Alkohol wird nicht mehr getrunken. Wer darauf nicht verzichten kann, geht an eine Luftbar und atmet ihn ein. Aber das ist so teuer, dass es niemand macht.

Ich blicke mich um. Das Publikum ist im Schnitt um die 100 Jahre alt. Einige haben aber ihre Ururenkel mitgebracht. Heute stirbt niemand mehr, es sei denn, er will. Dank Medizin ist die Unsterblichkeit Realität. Allerdings bezahlt man diese mit Krankheiten und Siechtum. Nicht wenige sterben daher freiwillig.

Das Konzert geht dem Ende zu. Mick Jagger fliegt mit seinem Fluganzug in die Mitte des Publikums und hält eine kleine Rede. Dank der Universal-Übersetzungsmaschine versteht jeder, was er sagt. Man hat einen kleinen Knopf im Ohr, jede Fremdsprache wird in Echtzeit übersetzt.

Nach dem Konzert nehme ich das Taxi. Es kann nicht fliegen, ist daher billiger. Aber es wird mit Wasserstoff betrieben. Niemand besitzt mehr ein Auto, das hätte finanziell keinen Sinn. Gerufen habe ich das Taxi mit Gedanken. Niemand telefoniert mehr, es reicht, sich in Gedanken mit dem Partner zu verbinden.

Zuhause sehe ich ein wenig fern mit meiner Datenbrille. Und ich lese die Zeitung. Zeitungen gibt es immer noch, und zwar auch auf Papier. Es hat sich herausgestellt, dass die Menschen das so wollen. Sie haben gerne etwas in der Hand. Auch Bücher sind nach wie vor beliebt. Manche sagen ja, das liegt daran, dass sie so einen hübschen Raumschmuck ergeben. Sie decken hässliche Wände wunderbar ab. Das Leben ist schön. Manchmal glaube ich ja: zu schön. 

Guido Tartarotti

Über Guido Tartarotti

Guido Tartarotti wurde, ohne vorher um Erlaubnis gefragt worden zu sein, am 23. Mai 1968 zur Mödlinger Welt gebracht. Seine Eltern sind Lehrer, und das prägte ihn: Im anerzogenen Wunsch, stets korrekt und dialektfrei zu sprechen, glaubte er bis in die Pubertät, Vösendorf heiße eigentlich Felsendorf. Das Gymnasium Perchtoldsdorf, wo es damals u. a. eine strenge Einbahnregelung für die Stiegenhäuser gab, verzichtete nach einigen Verhaltensoriginalitäten seinerseits nach der fünften Klasse auf seine weitere Mitarbeit. Also maturierte er in der AHS Mödling-Keimgasse. 1990 begann er in der KURIER-Chronikredaktion. 1994 wurde er Leiter der Medienredaktion, ein Jahr darauf auch der Kulturredaktion. Beide Positionen legte er 2004 zurück, um wieder mehr Zeit zum Schreiben zu haben.

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