Polly Adlers Chaos de luxe: Serotonin-Schokolade
Kurzreferate über berühmtes Elend helfen ein wenig gegen Depressionen.
Manche Menschen haben eine magnetische Wirkung auf Unglück. Die Vita der berühmten Tänzerin Isadora Duncan ist eine Perlenschnur an Tragödien. Ihr Chauffeur vergisst die Handbremse zu ziehen, weswegen ihre beiden Kinder im Wagen in der Seine ertrinken. Der weit jüngere russische Ex-Ehemann erhängt sich an den Heizungsrohren und schreibt davor mit seinem eigenen Blut ein Abschiedsgedicht.
Duncan selbst kommt um, als sich ihr roter Seidenschal in Nizza in der Felge ihres Bugattis verfängt. Ich habe ein paar solcher Storys voller gähnender Abgründe auf Lager, denn ein depressiver Freund liebt es, wenn ich ihm während seiner Reisen in den seelischen Norden Geschichten von Menschen erzähle, die sich „Trouble“ auf ihre Stirn tätowieren könnten. Diese Kurzreferate persönlichen Elends wirken auf ihn wie „Serotonin-Schokolade“; manchmal brauchte er aber einfach doch mehr – in Form von besseren Medikamenten. Das Repertoire wird mir nicht ausgehen: Ich habe gerade Kronprinz Rudolf, Amy Winehouse Nietzsche, Franz Kafka und Marcel Proust in Vorbereitung, wobei letzterer seine vielen Krankheiten kultivierte, weil nur sie ihn, so war er sich sicher, in kreative Höchstform katapultierten.
Kafka wiederum, schwer an Tuberkulose leidend, war in der Lage, das zu mobilisieren, was unter Universum-Beschwörerinnen in Buddhastatuen-lastigen Reihenhäusern unter „positive Energie“ läuft. Er schrieb aus dem Sanatorium: „Wenn man mitten in einem Hustenanfall steckt, kann man aber nicht anders, als es äußerst wichtig zu nehmen. Wenn er aber nachgelassen hat, kann man anders ...“„Erspar mir die Glückskeks-Weisheiten“, raunzte mein Patient, „ich bin mitten in einem seelischen Hustenanfall ...“ Offensichtlich genoss er es, mein Pflege-Gen getriggert zu haben, und revanchierte sich, in der Pose des mattmüden Schwans mit einer anderen Kalenderblatt-Weisheit: „Man kann im Leben nicht alles haben – außer man ist Hypochonder.“
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