Polly Adlers Kolumne: "Da schreit die Kuh!"

Begegnung mit einer Rollstuhl-Philosophin.

"Da vorne, da sind die Sitzplätze", sagte die Schaffnerin im Flughafenzug zu der Dame, die im Rollstuhl hereingefahren kam. "Danke, sehr freundlich, aber ich hab’ schon einen Sitzplatz und zwar im Dauer-Abo", antwortete die Frau und im Gesicht der Kontrollorin machte sich ein Erdbeerton aus Scham und Unsicherheit breit. 

Sie rettete sich mit ihrem Kampfschrei "Zusteigen bitte!" 

"Sehen Sie", nickte die Dame mir zu, "die Menschen haben keinen Humor. Schon gar nicht, wenn es um solche wie mich geht." – "Naja, man möchte alles richtig machen, Feingefühl beweisen etc. Aber je mehr man sich bemüht, desto mehr geht auch schon schief." 

Sie klatschte in die Hände: "Bingo! Und dann sind wir in der Mitleidszone, der Hölle für Behinderte." – "Oops, Sie Schlimme! Darf man das überhaupt noch sagen? Heißt das nicht physisch Eingeschränkte?" – "Diese neuen Termini finde ich sowas von IQ-beschränkt. Da schreit doch die Kuh!" 

Wir waren in Berlin, der Stadt exzentrischer Idiome. Ich erzählte ihr von meinem neuen Lieblingscomedian Brad Williams, einem Zwer... pardon maximal Kleinwüchsigen. In seiner Show "Fun Size" pries er ungehemmt die Vorteile seiner vorzeitig auf Pausentaste gedrückten Größe: Er könne jeden Supermarkt mit unbezahlten geschulterten Keksrollen verlassen, niemand würde ihn wegen Diskriminierungspanik auch nur behelligen. Sein Standard-Gruß "Ich bin keiner von den sieben ..." wäre ein verlässlicher Eisbrecher, denn das Schlimmste sei (neben Mitleid-Gesülze) auch die Anstrengung des Gegenübers, so zu tun, als ob es für jemand normal sei, im Stehen keinen Blick über die Tischplatte zu kriegen.

"Wahrscheinlich wollte er einfach nur, dass ihm die Menschheit auf Augenhöhe begegnet", sagte die Dame. Als wir angekommen waren, kläffte sie mir zu:  "Unterstehen Sie sich, mir zu helfen, bin schon groß, kann alleine." Und dann grinste sie. 

Ich winkte ihr nach. Voll Respekt. Was für eine Erscheinung in einer Welt, in der ansonsten Selbstmitleid zum Gesellschaftssport wurde. 

pollyadler.at, [email protected]

Polly Adler

Über Polly Adler

Polly Adler steht als Chaos-de-luxe-Kolumnistin auf dem satirischen Beobachtungsposten von Alltags-Irrsinn, Beziehungs-Herausforderungen und Brutpflege. Hinter dem Pseudonym versteckt sich die Wiener Journalistin Angelika Hager. Aus Polly Adlers verrückter Welt entstanden inzwischen acht Bücher, eine TV-Serie und diverse Bühnen-Shows, aktuell „Knietief im Glamour”: die Polly-Adler-Show im Rabenhof. Jeden Sonntag um 11 Uhr.

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