Polly Adler: Durchgeknallte Spatzen
Eine moralinsauer Fabel über unser seltsames Leben.
Der Aesop-Moment in Sri Lanka fiel mir wieder ein. Eigentlich kann man mich ja mit Fabeln jagen, sie triefen meist in moralischer Besserwisserei.
Aber: Es waren einmal zwei Spatzen, die sich im Gebälk einer Hotellobby ein Nest gebaut hatten. In dieser Lobby hing auch ein riesiger Spiegel. Als die Spatzen den entdeckt hatten, ließen sie sich am Rand nieder und starrten stundenlang ihr Spiegelbild an. Manchmal peckten sie auch hysterisch auf das Glas ein, weil sie sich selbst mit Rival:innen verwechselten. Die Tage vergingen und die Spatzen wurden immer verrückter, piepsten erregt und kippten komplett aus ihrer Work-Life-Balance.
Haben wir alle etwas von diesen durchgeknallten Spatzen, fragte ich mich, als ich wieder in Wien durch Instagram scrollte (vulgo meine Zeit in ein schwarzes Loch goß) und mir Babies beim Türmchenbauen, Windhunde in exaltierten Outfits und Frauen mit Einheitsgesichtern (Schlauchbootlippchen, Bambi-Augen, Stupsnasen) beim sich offensiven Räkeln betrachtete. Zwecks Entspannung, wie man sich immer wieder einredet. Meine Gedanken hetzen aber zunehmend in einem Zickzackkurs, meine Konzentrationsfähigkeit schmilzt auf die Länge eines Popsongs.
Ich erinnerte mich an den zweitägigen Netzausfall in Sri Lanka; nach Stunden mit von Unruhe und Nervosität gezeichneten Phantomschmerzen stellte sich plötzlich eine große Erleichterung ein. Wenn man dieses Gefühl nur halten könnte. Diese Woche begraben wir meine geliebte Tante. Sie war ein "aus der Zeit gefallener Mensch”, wie ein lieber Freund beim Kondolieren sagte: Sie schrieb Postkarten, klebte die schönsten Fotoalben, recycelte jedes Vorhangfetzerl, wickelte alle Bücher, die sie sich borgte, in selbst gebastelte Schutzumschläge, und fegte stundenlang durch die Natur. Sie kannte jede Blume mit Vornamen.
Ich hoffe, dass sie uns etwas von diesem Spirit hinterlässt. Wir könnten ihn alle sehr gut gebrauchen.
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