Ein Abendspaziergang in Retz

Vom Hauptplatz bis zum Vinzenziplatz.

Es ist Abend geworden, als ich noch eine Runde um den Hauptplatz von Retz gehe, vor der Pestsäule stehen bleibe und das Panorama auf mich wirken lasse. Links der 57 Meter hohe Rathausturm, dessen virtuos geformte Spitze mich an die Dächer von Prag denken lässt. 

Natürlich übernimmt der Rathausturm die Funktion eines Kirchturms, der er vor ein paar hundert Jahren auch war – jedenfalls gehören die Grundsteine des Gebäudes zu einer gotischen Kapelle, die später aus Budgetgründen säkularisiert und der Gemeinde überlassen wurde. Rechts das pfirsichfarbene Verderberhaus, ein frühneuzeitliches Bürgerhaus mit einer Fassade im venezianischen Renaissancestil, dessen in großen Lettern affichierter Name an die Brüder Thomas, Georg, Josef und Johann Verderber erinnert, Kaufleute, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Herzogtum Krain nach Retz gezogen waren und dort florierende Geschäfte gemacht hatten. Natürlich wäre mir zu den Verderbern gern etwas Spektakuläreres eingefallen, aber oft zerstört einem ja die Wirklichkeit die schönsten Geschichten. Ich betrachte also die Mariensäule und finde an ihrer Ostseite den Löwen von Retz, der in Vertretung der von der Pest gebeutelten Bürgerschaft bei der Heiligen Maria vorspricht, um für seine Mitbürger- und -bürgerinnen eine Fürbitte vorzubringen – eigentlich auch so eine Geschichte.

Insgesamt sollte mich das prachtvolle Ensemble vor mir wohl an die erfolgreiche Fernsehserie „Julia – eine ungewöhnliche Frau“ erinnern, die hier gedreht wurde, an die ich aber leider keine Erinnerung besitze, weil ich sie nie gesehen habe. Vielleicht werde ich das eines Tages nachholen, aber nicht mehr heute, denn der Abend ist zu schön.

Der Tag begann hier, auf diesem Platz, wo seit wenigen Jahren an jedem Samstag ein Markt stattfindet, der vielleicht kein ganz normaler Bauernmarkt ist, aber mit Sicherheit die besten Lebensmittel der Region (und ein bisschen darüber hinaus) präsentiert. Ich spazierte über den Platz, holte mir Frühstück, befand, dass es noch zu früh war, Wein zu kosten, lief dem Organisator des Marktes, Michael Vesely, in die Arme, der ein zugezogener Bürger der Gemeinde ist wie die Verderberbrüder, nur dass sein Vermächtnis dieser Markt ist und kein Hauptplatzgebäude im venezianischen Renaissancestil (wenigstens bis jetzt noch nicht, aber der Mann ist ja noch jung). 

Später spazierte ich durch den Schlosspark, um in einem Gasthaus namens „Mährische Botschaft“ ein Mittagessen einzunehmen, vertrödelte den Nachmittag mit Überbleibern vom Markt ebendort und besuchte am frühen Abend ein Konzert der großartigen „Strottern“ mit den ebenso großartigen „Franui“ in der ehemaligen k.u.k. Weinprüfstelle, das trug zur Erbauung bei, sodass schließlich der Wunsch reifte, den Abend über die Stadt hereinbrechen zu sehen und den Tag in seinem ganzen Kreis zu genießen. Ich stehe also neben der Pestsäule und denke mir, viel schöner kann ein Abend nicht sein, an einem Abend im Sommer, der verspricht, dass der Sommer noch lange nicht vorbei ist. 

Die Route

Retz Hauptplatz – Kremserstrasse – Schlossplatz – Schlosspark – Mährische Botschaft – Klostergasse – Vinzenziplatz – Hauptplatz: 6.000 Schritte

Christian Seiler

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