Warum wir Erschöpfung bei Frauen nicht sehen

Wir unterschätzen, wie müde Frauen und überschätzen, wie erschöpft Männer sind. Warum das so ist und was wir dagegen tun können.

Stellen Sie sich vor: Sie sind erschöpft – doch niemand merkt es. Genau das scheint für Frauen oft Realität zu sein. Eine neue Studie der NASA hat herausgefunden: Wir unterschätzen systematisch die Müdigkeit von Frauen.

Ursprünglich wollte die amerikanische Psychologin Morgan D. Stosic allgemeine Müdigkeitsmarker identifizieren. Ihr Ziel war es, Merkmale wie eine zusammengesackte Körperhaltung, vermehrtes Zappeln oder eine verminderte Mimik zu identifizieren, die auf Erschöpfung hinweisen. 

Die meisten erkennen Müdigkeit bei Frauen kaum

Das Thema ist nicht trivial: Müdigkeit trägt bei Weltraummissionen zu fast der Hälfte aller Unfälle und Fehler bei – eine Risikoquelle, die die NASA minimieren wollte. Doch die Ergebnisse, veröffentlicht im Fachjournal Sex Roles, brachten eine unerwartete Erkenntnis: Die meisten Menschen erkennen Müdigkeit bei Frauen kaum.

Konkret baten Stosic und ihr NASA-Forschungsteam Männer und Frauen, ihre eigene Müdigkeit auf einer 5-Punkte-Skala zu bewerten. 

Anschließend führten die Forscherinnen ein kurzes Gespräch mit den Teilnehmenden. Diese tonlosen Clips wurden einer Gruppe von 71 Zuschauern gezeigt, die anhand nonverbaler Hinweise die Müdigkeit der Sprechenden einschätzen sollten. Während die Müdigkeit der Männer um durchschnittlich 0,9 Punkte überschätzt wurde, unterschätzte man jene der Frauen um 1,3 Punkte.

In der Studie schätzen sich Frauen durchschnittlich müder ein als Männer - aber das wurde nicht erkannt.

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Eine mögliche Erklärung der Forscherinnen: Personen, die in den Videos ausdrucksstark und aufmerksam wirkten, wurden als weniger müde eingestuft. Die Frauen tendierten jedoch dazu, auch in erschöpftem Zustand Gestik und Mimik einzusetzen.

Der Druck traditioneller Geschlechterrollen

Aber wieso ist das so? Für die Tiroler Psychotherapeutin Ines Gstrein vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie kommen zum einen die traditionellen Geschlechterrollen ins Spiel: "Auch im Jahr 2025 gelten Frauen noch als die 'Kümmerinnen'. Bereits als Mädchen wird ihnen eingetrichtert: Sei fürsorglich, sei lieb, sorge dich um andere." 

Traditionelle Geschlechterrollen wirken sich auf unsere Erwartungshaltungen aus, sagt Psychotherapeutin Ines Gstrein

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Studien bestätigen das: Eine Untersuchung der Universität Kent aus dem Jahr 2023 zeigte, dass Frauen in Führungspositionen für einen Mangel an Wärme kritisiert werden – eine Kritik, der Männer selten ausgesetzt sind.

Diese gesellschaftlichen Erwartungen haben weitreichende Folgen. "Frauen lernen von Kindheit an, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer zurückzustellen", so Gstrein. Müdigkeit wird dadurch entweder verdrängt oder als normal akzeptiert.

Hinzu kommt, dass Mädchen laut Ines Gstrein oft stärker im Vergleich sozialisiert werden. Während Jungen im Teamsport Gruppenaufgaben bewältigen, sollen Mädchen in vielen Bereichen allein herausstechen – sei es inhaltlich, äußerlich oder durch Lebensumstände.

Mädchen werden in der Erziehung mit anderen stärker verglichen, sagt Gstrein.

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Das führt dazu, dass manche Frauen ihre Erschöpfung vielleicht nicht zugeben, um nicht schwach zu wirken.

Der hart arbeitende Mann "darf" müde sein

Auf der anderen Seite wird Männern Müdigkeit stärker zugestanden. "Der Mann wird traditionell als Leistungsträger gesehen", erklärt Gstrein. "Er arbeitet hart und darf am Abend müde sein. Seine 'Müdigkeit' ist objektiv." Viele ihrer Klientinnen berichten ähnliche Erfahrungen: "Wenn mein Mann nach Hause kommt, ist er müde. Da kann ich nicht verlangen, dass er noch den Staubsauger schwingt." Dass die Frau selbst den ganzen Tag gearbeitet hat, oft unbezahlt, bleibt unausgesprochen. "Die weibliche Erschöpfung ist quasi part of the game."

Frauen erobern den Weltraum

Rabea Rogge will die erste deutsche Frau im All sein. Sie bereited sich derzeit auf die private Mission von SpaceX vor, die für März 2025 geplant ist. 

China schickte vergangenes Jahr seine erste Raumfahrtingenieurin ins Weltall. Wang Haoze ist Teil der Raumfahrtmission Shenzhou-19, die am 30. Oktober startete.

Vergangenen Juli hat Katherine Bennell-Pegg aus Sydney als erste Astronautin unter australischer Flagge Geschichte geschrieben.

Ärzte knausern bei Frauen mit Schmerzmitteln

Das Unterschätzen weiblicher Müdigkeit reiht sich für Gstrein in ein größeres Problem ein: Frauen werden auch im medizinischen Kontext häufig nicht ernst genommen. "Schnell heißt es, sie übertreibt oder dramatisiert", sagt sie. Ein Narrativ, das bei Männern kaum existiert.

Eine Studie aus den USA und Israel aus dem Sommer 2024 untermauert diese Aussage: Frauen mit identischen Schmerzsymptomen bekamen in Notaufnahmen seltener Schmerzmittel verschrieben als Männer – unabhängig davon, ob sie von einem Arzt oder einer Ärztin behandelt wurden.

Haben Frauen Schmerzen, werden psychosomatische Gründe gesucht; Männer erhalten Schmerzmittel.

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Zurück zur Hysterie

Die Wurzeln solcher Haltungen reichen tief in die Geschichte. "Das erinnert mich an die Zeit vor 100 Jahren", sagt Gstrein, "als Freud die Hysterie in der Gebärmutter verortete und Frauen in Ohnmacht fielen, weil sie nicht gesehen oder ernst genommen wurden."

Gesellschaftliche Einstellungen zu ändern, brauche Zeit. Umso wichtiger sei es, dass Studien, Forschung, und neue Räume für Gespräche geöffnet werden. 

Dass Frauen auch in den sozialen Medien zeigen, wenn sie am Abend fertig sind und nicht nur das perfekte Funktionieren darstellen. Dass wir kleinen Mädchen sagen, dass sie nicht immer lieb und nett sein müssen. Und, vielleicht am wichtigsten: Dass man müde sein darf, wenn man müde ist.

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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