Ein Spaziergang zum Turm am Berg in Wien

Vom Hauptbahnhof aus 11.000 Schritte zum Bahnhof Simmering flanieren.

Ich gehe vom Hauptbahnhof hinüber in das Sonnwendviertel, wo das alte Wien sozusagen die Decke zurückgeschlagen hat, um für das neue Wien Platz zu machen. Es ist kalt. Die Wiesen des Helmut-Zilk-Park sind leer, und die Gräser der Stadtbegrünung versprühen karg und dürr winterlichen Charme. In diesem Moment begreife ich, dass Gärten nicht nur schön sind, wenn sie in voller Pracht stehen, sondern dass auch ihre winterliche Kehrseite, ihre Überbleibsel und Schatten etwas dazu beitragen, dass man einen Garten schätzt oder sogar liebt. Die großen Meister der Gartengestaltung, allen voran der fantastische Piet Oudolf, wissen das und legen ihre Gärten entsprechend an (wer sich für Gärten interessiert, sollte sich das eine oder andere Buch von Oudolf besorgen. Seine Gärten sind von berührender Schönheit).

Ich gehe bis ans äußerste Ende des Parks, um zu sehen, wie sich der Ort anfühlt, wo das alte Favoriten mit seinen schmuck- und farblosen Fassaden auf diese Neuinterpretation von Stadt trifft. Ein schwarzer BMW fährt vorbei, dessen Lautsprecher mindestens so groß wie der Sechszylindermotor sein müssen, so laut dröhnt der diffuse Bass des Autoradios, und ich fühle mich seltsam angezogen von der Absberggasse, die hinter dem Familienbad Gudrunstraße hinauf Richtung „Monte Laa“ führt, man darf auch Laaer Berg sagen.

So gehe ich die Absberggasse bergauf, sehe die Fassaden der Central European University, die von Budapest kommend auch bald wieder an einen neuen Ort übersiedeln soll, überquere die Quellenstraße und bin vom neuen Wien, wo ich vor fünf Minuten war, auf einmal viele Jahre entfernt. Oben am Berg sehe ich einen gewaltigen Turm. Ich beschleunige meinen Schritt, um herauszufinden, zu welchem Komplex er gehört.

Die Brotfabrik von Anker

Der Turm ist das herausragende Bauwerk neben dem Eingang zur 1891 gegründeten Ankerbrotfabrik, die um die Jahrhundertwende die größte Bäckerei Europas beherbergte. Längst sind die historischen Teile der Fabrik einer neuen Verwendung zugeführt, sie umfassen unter dem Titel „Brotfabrik“ Galerien, Ateliers, Schauräume, Büros, Lofts und Cafés. Der ehemalige Getreidesilo, klobig und grau, ragt direkt neben dem Eingang zur Brotfabrik in die Höhe, Zeuge der eigenen Vergangenheit und Gegenwart.

Die gewaltigen Wände wurden von namhaften Street-Art-Künstlerinnen wie Faith47, Shepard Fairey und Faile neu gestaltet. Vor Faith47’s junger Frau, die sich die Hände vor die Augen hält, bleibe ich lange stehen, das Bild hat eine magische, verunsichernde Wirkung. Um Faireys schon etwas verblasstes Mural namens „Obey“ besser zu betrachten, biege ich in die Ferdinand-Löwe-Straße ein und steige auf die Brücke über die Südosttangente, von wo ich erst die Dimensionen von Fabrik, Silo, Kunst und der blauen Stadt im Hintergrund richtig erfassen kann. Aufgeladen von dieser Kunst am Bau gehe ich weiter Richtung Löwygrube, durchquere den Park mit seiner berückenden Aussicht und nehme am Bahnhof Simmering die U3 zurück in die Stadt, die stets neue Stadt.

Die Route

Hauptbahnhof – Helmut-Zilk-Park – Absberggasse – Ferdinand-Löwe-Strasse – Moselgasse – Löwygrube – Luise-Montag-Gasse – Bahnhof Simmering: 11.000 Schritte

Christian Seiler

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