Der Zauber der Musik, wenn der Wiener Prater ruft

Ein Spaziergang durch die grüne Gegend. Über die Hauptallee zum Lusthaus bis zur Wasserwiese. Im Ohr: Mira Lu Kovacs.

Zum Jahresende ruft mich der Prater. Ich höre ihn gerne und gehe schon am frühen Nachmittag los, um bei Tageslicht vom Praterstern bis zum Lusthaus zu kommen. Ich gehe ein Stück auf den Nebenfahrbahnen der Hauptallee, sehe die Eichhörnchen auf die Bäume flitzen und bunte Jogger der Zeit davonlaufen, dann spaziere ich am Ufer des Heustadlwassers entlang, wo aufgesprengte Löcher im Asphalt gerade neu gefüllt werden und wie immer ein Hauch von Verlassenheit über dem Wald liegt – wenn man den Lärm der Südosttangente nicht in Rechnung stellt.

Beim Lusthaus biege ich Richtung Golfplatz ab und hänge die wunderschöne Runde um das Lusthauswasser an, dieses Mittelding aus Spazierweg und Urwaldbesuch, so spektakulär und verschwenderisch haben sich die Hölzer und Stauden rund ums tief stehende Wasser in Form gebracht.

Ich bin übrigens an diesem letzten Tag des Jahres nicht allein unterwegs. Ich habe die Stimme der wunderbaren Sängerin Mira Lu Kovacs im Ohr, die mit dem Pianisten Clemens Wenger das Album „Sad Songs To Cry To“ aufgenommen hat, und das ist, obwohl gerade erst erschienen, prompt zu meinem Album dieses ablaufenden Jahres geworden.

Die Stimme von Mira Lu Kovacs, die man schon von ihrer Arbeit mit Schmieds Puls, 5K HD und vorangegangenen Soloprojekten kennt, verfügt über eine merkwürdige, filigrane Magie, die mich schon immer angerührt hat. Einige der neuen Lieder kannte ich von früher, zehn von zwölf sind Coverversionen von so unterschiedlichen Komponisten wie Friedrich Holländer, Rio Reiser oder STS. Deren Hadern „Kalt und kälter“ singt Mira Lu Kovacs mit einer so ätherischen, ergreifenden Leichtigkeit, dass ich mich verblüfft frage, wie man so ein muskulöses Original mit so wenigen Strichen nachzeichnen kann, zum Vorteil seiner sentimentalen Geschichte.

Berührt zum Lusthaus

Immer wieder höre ich mir auf meinem Weg das Eingangslied „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ an, diesen fantastischen Schlager Friedrich Holländers, den Marlene Dietrich mit Burt Bacharach aufgenommen hat. Während die dunkle Stimme der Dietrich traurig und abgeklärt über die ungewisse Zukunft meditiert, schwebt die der Kovacs pulsierend über dem Herzschlag des Klaviers und erwägt, wo sich auf der Landkarte zwischen Glück und Traurigsein die Gegenwart befindet: „Wenn ich mir was wünschen dürfte / Käm ich in Verlegenheit / Was ich mir denn wünschen sollte / Eine schlimme oder gute Zeit / Wenn ich mir was wünschen dürfte / Möcht ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu glücklich wär / Hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein“.

Berührt gehe ich zurück zum Lusthaus, von dort die Belvedereallee entlang, an der Sulzwiese vorbei, und als ich bei der Wasserwiese angekommen bin, geht gerade hinter dem Panorama der Hochhäuser, die sich jenseits des Donaukanals aufgestellt haben, die Sonne unter. Ich muss lächeln, weil die Silhouetten der Bäume im Vordergrund mit denen der Hochhäuser zu spielen scheinen, und plötzlich weiß ich, was ich mir für 2023 wünsche: den langen Schritt, den richtigen Ort, die schrägen Strahlen der Sonne, den Zauber der Musik, dieser Musik.

Die Route

Praterstern – Hauptallee – Lusthaus – Lusthauswasser – Belvedereallee – Wasserwiese: 11.000 Schritte

Christian Seiler

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