Seilers Gehen: Warum Favoriten verschiedene Welten vereint

Ein Spaziergang der Extreme: Von frischem Brot bis zum Betonpalast der ehemaligen Sozialversicherungsanstalt der Bauern.

Ich gehe durch den zehnten Bezirk, „An der Ostbahn“ entlang, und zähle Red-Bull-Dosen, die weggeschmissen am Straßenrand liegen. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig, die meisten im klassisch-silberblauen Outfit, manche auch sugarfree und ein paar neue Seasonals sind auch dabei. Es ist ja nicht so, dass ich auf meinen Spaziergängen nicht viel Müll am Straßenrand sehen würde, aber die Massierung an diesem kurzen Straßenabschnitt neben der Ostbahn ist auffällig. Wer den Grund dafür kennt, möge mich bitte einweihen. Ansonsten befinden sich hier anschaulich viele Gründe, um endlich das Dosenpfand einzuführen.

Ich spaziere am Rand der Kleingartensiedlung Favoriten entlang, rechts von mir die Schneise der irgendwann einmal geplanten, zu bauen begonnenen und dann doch wieder verworfenen Abfahrt Simmering, die hier vor sich hin verkümmert. An Kleingärten und ein paar Gstätten vorbei spaziere ich zur Unterführung unter der Südosttangente, und plötzlich beginnt es zu duften, nach frischem Brot und Semmeln, und es braucht ein bisschen, bis ich das Mauerwerk hinter den eingezäunten Brachen als Ankerbrotfabrik identifiziere, die ganz offensichtlich für den feinen Geruch verantwortlich ist.

©Klobouk Alexandra

Durch Grünflächen von Gemeindebauten aus den Achtzigerjahren gehe ich die Hofherrgasse bis zur Gudrunstraße hinunter, überquere ziemlich viel Asphalt, bis ich an der Verladestelle für Autoreisezüge vorbeigekommen bin und auf der Maria-Lassnig-Straße ins Sonnwendviertel eintrete. Die Kontraste könnten nicht viel größer sein zwischen den abgewohnten Häusern jenseits der Gudrunstraße und den schicken Neubauten im Stadtentwicklungsfokus. Beides gehört zum großen Bezirk Favoriten, aber es tun sich doch verschiedene Welten auf.

Ich nehme den Arsenalsteg, um die Bahntrassen des Hauptbahnhofs zu überqueren, sehe einen Railjet vom Flughafen kommen und bekomme Fernweh. Schlendere durch die durchnummerierten „Objekte“ des Arsenals Richtung Schweizergarten, und als ich schließlich die Ghegastraße Richtung Landstraßer Gürtel gehe, fällt mir ein kleines Ziegelhäuschen auf, das in einer Grünfläche steht, den rauschenden Gürtelverkehr vor der Nase und den Achtzigerjahre-Betonpalast der ehemaligen Sozialversicherungsanstalt der Bauern im Rücken, wo inzwischen Büros „mit Aussicht“ eingezogen sind.

Der Ziegelbau entpuppt sich als „begehbare Skulptur“ namens „Zwischen Anlagen Anderer“. Seine Schöpfer, die Künstler Michael Meier und Christoph Franz, haben sich dabei an den Grundriss sogenannter „Vorsorgewohnungen“ gehalten, die, wie sie im Beipacktext sagen, aus „Wohnungen Renditeobjekte“ machen. Die Grundfläche entspricht so einer Kleinwohnung, die Ziegel haben sie aus dem Bauschutt umliegender Baustellen geholt und entstanden ist ein harmonisches, kleines Gebäude, das eines der brennendsten Probleme Wiens benennt und anschaulich macht.

Ich setze mich auf das Sims der Terrasse und schaue mich um. Lärm, Beton, die Baumkronen des Schweizergartens. Nachdenklich bleibe ich sitzen, zwischen den Anlagen Anderer.

Die Route

An der Ostbahn – Urselbrunnengasse – Laaer Wald – Puchsbaumgasse – Hofherrgasse – Ostbahnstrasse – Maria Lassnig Strasse – 
Arsenalsteg – Arsenal – Ghegastrasse: 6.000 Schritte

Christian Seiler

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