Ein Spaziergang zum Abgebrannten Haus in Wien
Vom Rilkeplatz aus 1.500 Schritte zur Wiedner Hauptstraße.
Der Zufall will es, dass ich gern durch die Große Neugasse gehe. Meistens nähere ich mich ihr über die Wiedner Hauptstraße an, heute aber folge ich der Margaretenstraße, weil ich mir vorgenommen habe ins schöne Schaufenster von Frau Jeller, der Buchhändlerin auf Nummer 35, zu schauen. Apropos Margaretenstraße: Nicht alle Wienflaneure wissen, dass diese lange, bis zum gleichnamigen Gürtel führende Straße, benannt nach der ebenfalls gleichnamigen Vorstadt, direkt von der Wiedner Hauptstraße zu beschreiten ist: Sie beginnt bereits am Rilkeplatz, direkt vor dem schönen, aber leider geschlossenen Hotel Triest und offenbart ihren Reichtum gleich auf Nummer 3, wo das sagenhaft unauffällige Geschäft von Nino Crupi beste sizilianische Orangen und einen wundervoll cremigen Rohschinken im Angebot hat – viel mehr übrigens nicht, aber wer will schon mehr?
Ich widerstehe dem Impuls, Crupi einen Besuch abzustatten, weil ich nicht Taschen voller Orangen mit mir herumschleppen will. Stehe dann vor der Buchhandlung Anna Jeller, drücke mir buchstäblich die Nase platt beim Betrachten ihres ausgesuchten Angebots, kluge, klassische, unterhaltsame Bücher, wie es der Chefin gefällt. Aber auch hier widerstehe ich dem Verlangen, mir den neuen Julian Barnes mitzunehmen, aus nämlichen Gründen. Stattdessen gehe weiter, biege in die Große Neugasse ein und stehe jetzt vor der schweren Entscheidung, wo ich mein Glück für einen kleinen Imbiss versuchen soll: Bei Christina Nasrs wundervollem Restaurant „Alma“ (Nr. 31), das eine gute Hand für leichte, raffinierte Gemüseküche (und abgefahrene Weine) hat – oder ein paar Schritte weiter Ecke Rienößlgasse im Gasthaus Wolf, wo die Tradition der Wiener Küche auf atemberaubendem Niveau fortgeschrieben wird (ich schreibe das im Wissen, dass es meine Chancen, nächstes Mal einen Tisch zu bekommen, minimiert; aber wenn es um den guten Geschmack geht, muss die Wahrheit hochgehalten werden). Natürlich sind beide Etablissements voll. Beim Wolf darf ich mich an der Bar in die Warteschleife einreihen.
So fallen Entscheidungen, ohne dass man sich für irgendetwas entscheiden muss. Später am Abend – bloß nicht auf die Kalbszunge verzichten! – gehe ich schließlich weiter und bleibe an der Ecke Große Neugasse und Wiedner Hauptstraße stehen. Mir gegenüber ein Haus mit dem paradoxen Namen „Abgebranntes Haus“. Wenn ihr jetzt eine Geschichte erwartet, die in euch die Erinnerung an beißenden Geruch nach gelöschtem Feuer weckt, Fehlanzeige. Das Abgebrannte Haus steht wohl dort, wo bis ins 18. Jahrhundert eine Armenwohnsiedlung und das legendäre Siechenhaus am Klagbaum gestanden war, das ein päpstlicher Kaplan für Leprakranke gestiftet hatte. Davon ist nach der neuen Gründerzeitbebauung nur mehr der Hoftrakt der Villa Wiesenthal, Heimstätte der „Freien Bühne Wieden“ übrig – und der irreführende Name. Von einem Feuer wissen die Annalen nichts. Ich würde mir für jedes Mal, wenn jemand an dieser Ecke die Frage stellt: „Wer oder was ist hier abgebrannt?“ einen Euro wünschen. Dann umdrehen und beim Wolf noch eine Nachspeise essen.
Die Route
Rilkeplatz – Margaretenstrasse – Grosse Neugasse – Wiedner Hauptstrasse: 1.500 Schritte
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