Seilers Gehen: Wie bunt die Stadt diese Woche ist!
Graffitis, Gasthäuser, Gründerzeitfassaden - zwischen "Hilfer" und Naschmarkt wachsen Zukunftsträume.
Es gibt Gassen in Wien, die sich so schnell in urbane Zukunftsräume verwandeln, als ginge ihnen die Entwicklung im Rest der Stadt zu langsam. Dort bin ich gerne, zum Beispiel in der Otto-Bauer-Gasse. Die gehe ich, von der Mariahilfer Straße kommend, bergab. Begegnungszone, die Fahrbahn gehört also auch mir, und ich nütze sie, um gleichberechtigt nach links und rechts zu schauen, hier eine „Kaffeefabrik“, dort ein Bioladen, das hübsche Wirtshaus „Steman“, das Café Jelinek, wo ich gern eine Pause eingelegt hätte, wenn nur ein Platz frei gewesen wäre. Ich überquere die Gumpendorfer Straße und gehe durch die Hofmühlgasse Richtung Wiental. Vor dem Richard-Waldemar-Park bleibe ich stehen und betrachte die riesigen Gemälde, die auf den Feuermauern der dahinterliegenden Wohnhäuser entstanden sind. Ein Vater, auf dessen Schultern sein Kind reitet, auf der Mauer daneben eine surreale Kunstlandschaft, aus der ein paar Picasso-Gesichter grüßen. Viele der Arbeiten, die im Rahmen von Street-Art-Festivals auf grauen Mauern entstanden sind, mag ich sehr, wie auch diese beiden. Sobald private Stadtflächen an irgendwelche Firmen vermietet werden, die im Stil freier Künstler Reklame für Wodka, Banken oder Immo-Unternehmen anbringen lassen, bin ich hingegen verstimmt. Als würde die Reklame unser Leben nicht eh schon genug perforieren.
Ich gehe am „Rave Up“ vorbei, einem Independent-Plattengeschäft, das noch immer die Stellung hält, möge es von den Analogmusikhörern noch lange behütet werden. Dann überquere ich auf der Pilgrambrücke den Wienfluss. Stadteinwärts macht das Wiental hier einen pittoresken Schwung nach halb rechts, und ich kann gar nicht anders, als stehen zu bleiben und den Gleichklang von U-Bahn-Trasse, Flussbett und den Fassaden der Häuser an der Linken Wienzeile zu bewundern, die Stadt scheint hier in ewiger Bewegung erstarrt zu sein.
An der Rechten Wienzeile hat sich in eine enge Baulücke zwischen Gründerzeitfassaden das Hotel Indigo mit seiner Urban-Jungle-Fassade geschmuggelt. Während ich darüber nachdenke, wie schmal ein Haus eigentlich sein kann, gehe ich auf der Rechten Wienzeile stadteinwärts, vorbei an der Rüdigergasse, wo die Wienzeile ansatzlos zur Hamburgerstraße wird, nur um eine Gasse weiter, nämlich bei der Wehrgasse, zurück in die Rechte Wienzeile transformiert zu werden, verstehe das, wer will.
Ein Haus erregt meine Aufmerksamkeit, weil es eine Antwort auf meine Frage von vorhin ist: Hamburgerstraße 8, ein maximal sechs Meter breites, dafür fünfstöckiges, sezessionistisches Wohnhaus. Die Fassade ist auffällig rhythmisiert, kein Stockwerk sieht aus wie das andere, Kombinationen aus weißen und braunen Fassadenelementen erzeugen eine eigenwillige, attraktive Spannung – und damit meine ich nicht die Kontaktbar namens „Man to Man“ im Erdgeschoß, sondern das Verhältnis zu den konventionelleren Nachbarhäusern. Ich gehe weiter zum Naschmarkt, um festzustellen, dass es auch Ecken Wiens gibt, die sich langsamer verändern als sich die Erde um die Sonne dreht.
Die Route
Otto-Bauer-Gasse – Gumpendorfer Straße – Hofmühlgasse – Rechte Wienzeile – HamburgerStraße – Naschmarkt: 3.000 Schritte
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