Seilers Gehen: Der tote Winkel der Stadt
Vom Hauptbahnhof aus 2.100 Schritte unterwegs.
Es gibt Orte in Wien, die auf keinem Stadtplan vermerkt sind, sondern im toten Winkel der Stadt liegen. Man muss entweder einen speziellen Grund haben, um diese Orte aufzusuchen, oder man lässt sich auf eine gedankenverlorene Weise treiben, bis man plötzlich angekommen ist und nicht genau weiß, wo. So ging es mir zuletzt, als ich nach einer Runde durch das Sonnwendviertel wieder einmal durch das weitläufige Gelände des Arsenals spazierte. Ich wählte diesmal nicht den prachtvollen Ausgang beim Heeresgeschichtlichen Museum, sondern suchte auf der anderen, autobahnseitigen Flanke des Areals einen Weg. Das Science Center der Technischen Universität hat sich dort angesiedelt, daneben steht das Fernheizwerk Arsenal, eine der herausragenden Nutzwertskulpturen unserer Stadt. Geplant von Markus Pernthaler Architekten hat das Heizwerk eine utopisch-elegante, fast James Bond-mäßige Anmutung, die ich über die Mauer des St. Marxer Friedhofs hinweg schon oft bewundert habe.Dort, beim Fernheizwerk, folgte ich einer frisch asphaltierten Straße, benannt nach dem mir völlig unbekannten Komponisten Franz Grill (1756–1792), der im Zivilberuf Kammerdiener des Kunst- und Musikmäzens Ferenc Graf Széchényi gewesen sein soll und Kammermusikwerke in der Tradition Joseph Haydns hinterlassen hat. Die nach Grill benannte Straße enthält wenig Lyrisches. Sie führt über ehemaliges Bundesheergelände. Der hier vollendete Radweg stellt eine neue Verbindung von der Innenstadt Richtung Sonnwendviertel und Oberlaa dar.
Auf der linken Seite bauen sich die prächtigen, gut gepflegten Fassaden der Kaserne Arsenal auf, die ein paar hübsche Durchblicke zur Panzerhalle und zum Funkturm der Telekom erlauben, der bekanntlich den Kosenamen „Alfred“ trägt, nach Alfred Schlegel, der 1978 zum Zeitpunkt der Turmeröffnung den Posten eines Postdirektors bekleidete. Auf der rechten Seite gehe ich zuerst am Schweißzentrum des BFI-Wien vorbei, dann komme ich zu einer wohlproportionierten Halle, die auf einer verwahrlosten Fläche, einer typischen Gstettn, steht.
Es ist die ehemalige Ballonhalle des Arsenals. Ihre Bestimmung geht auf das Jahr 1893 zurück, als die Verwendung von Gasballons als militärisch relevant eingeschätzt und die „Militär-Aeronautische Anstalt“ ins Leben gerufen wurde. Das Gelände habe anfänglich „einer Mondlandschaft“ geglichen, schreibt Reinhard Karl Boromäus Desoye in seiner Magisterarbeit über die k.u.k. Luftfahrttruppe, und ich kann bestätigen, dass das heute, lange nach dem Ende der Monarchie und der k.u.k. Luftschifferabteilung, nicht viel anders ist. Die Halle mit ihren durch hohe Fenster schön gegliederten Flanken befindet sich, umgeben von Bauzäunen, in einer Wüste aus Stein und Gestrüpp, gegenüber ein riesiger Möbelmarkt, auf der Seite der Zubringer auf die A23. Immerhin steht die Halle unter Denkmalschutz. Für die neue Trasse der Franz-Grill-Straße wurde sie etwas verkürzt, der Gehsteig führt unter neu gemauerten Arkaden durch. Ein Blick durch die Türen ins Innere der leeren Halle offenbart: Den Toten Winkel der Stadt.
Die Route
Hauptbahnhof – Sonnwendgasse – Hackergasse – Helmut-Zilk-Park – Arsenalsteg – Arsenal – Lilienthalgasse – Zemanekgasse – Franz-Grill-Strasse: 2.100 Schritte
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