Weihnachen: Herr Posch und der Brief ans Christkind
Autorin Vea Kaiser hat einen schönen Text über einen grantigen Mann und die Zwillinge Emma und Emil zum Vorlesen geschrieben.
Zehn Tage vor Weihnachten erlebten die Zwillinge Emma und Emil den ersten richtigen Schnee in ihrer Straße. Normalerweise verwandelten sich die Flocken in gelb-braun-grauen Gatsch, sobald sie den Boden berührten. Doch nun schwebten weiße Batzen gemächlich vom Himmel, bedeckten Bäume, Sträucher, Mistkübel und sogar den Dreck am Straßenrand. Emma konnte nicht widerstehen. Sie wartete, bis Emil vor ihr ging, formte einen festen Ball in ihren Handflächen, holte weit aus und traf Emil genau ins Genick. „Na warte!“, schrie Emil und Emma ging in Deckung.
Von der Straße bis in den Vorgarten beschossen sie einander kichernd und kreischend, doch dann quietschten im ersten Stock die Fensterläden und Herr Poschs grauer, oben kahler und an den Seiten buschig behaarter Kopf lugte heraus. „Das gibt Ärger“, flüsterte Emil. Eilig ließen sie ihre Schneebälle fallen, um nach Hause in den zweiten Stock zu laufen.
Herr Posch war der Eigentümer des ganzen Zinshauses. Er lebte gemeinsam mit seiner Tante, die seit Jahren bettlägrig war, im ersten Geschoß. Tagein, tagaus war er zu Hause und wachte über die Einhaltung der Hausordnung. Herr Posch hatte sie selbst verfasst, und wer ihr zuwiderhandelte, dem schrieb er sogleich einen bitterbösen Brief.
Als Mama einmal für zehn Minuten den Müll vor die Tür stellte, schrieb er: Nur asoziale Dreckspatzen belästigen die Hausgemeinschaft, indem sie ihre stinkenden Abfälle außerhalb des eigenen Wohnraums lagern!!!
Feuerwehrzufahrt blockiert
Als Papa für drei Minuten vor der Hofeinfahrt parkte, weil er seinen Laptop vergessen hatte, tippte Herr Posch: Nur asoziale Landstreicher gefährden die Leben aller anderen Hausbewohner, indem sie die Feuerwehrzufahrt blockieren!!!
Und bereits eine Stunde nach Beginn von Emmas und Emils Geburtstagsparty war ein zehnseitiger Brief durch den Türschlitz gesaust: Nur asoziale Schmarotzer strapazieren die Gutmütigkeit anderer, indem sie nicht nur die eigenen Bengel ungezähmt toben lassen, sondern auch noch deren wildgewordene Altersgenossen dazu laden!!!!
Herrn Poschs Lieblingswort war „asozial“, sein liebstes Satzzeichen das Rufzeichen. Alle seine Briefe endeten gleich: mit der Drohung, sollte man die Hausordnung nochmals missachten, müsse man sich eine neue Wohnung suchen. Und davor hatte die Familie große Angst, denn obwohl Herr Posch ein alter Grantler war, waren seine Wohnungen schön und leistbar. „Gute Wohnung oder gütiger Vermieter – man kann nicht beides haben“, sagte der Papa bei jedem Posch’schen Brief. „Außerdem können wir uns nichts Vergleichbares in der Nähe leisten“, fügte die Mama hinzu.
Doch am Abend nach der Schneeballschlacht geschah die Katastrophe: Ein auf rotem Papier gedruckter Posch-Brief lag vor der Tür.
Nach dem Lesen weinte Mama, und Papa fluchte Schimpfworte, für welche die Kinder mindestens drei Tage Fernsehverbot bekommen hätten. „Herr Posch hat uns gekündigt, wir müssen im Feber ausziehen“, schluchzte die Mama. Schnell setzte der Papa hinzu: „Aber sorgt euch nicht, wir finden garantiert etwas anderes!“
Leider passten Papas Worte überhaupt nicht zu seinem Gesichtsausdruck.
In der folgenden Woche taten die Eltern, als wäre alles gut, aber Emil und Emma waren keine Babys mehr. Die Erwachsenen glaubten, dass ihre Kinder sie im Kinderzimmer nicht hören konnten, doch da die Hausordnung auch laute Musik oder Fernsehen verbot, war es im Haus so mucksmäuschenstill, dass sie jedes Wort belauschen konnten. Abends stritten Mama und Papa heftig, wer daran schuld sei, dass sie kein Geld für eine neue Wohnung hätten.
Streit soll aufhören
Schließlich hatte Emma eine Idee: „Wir sollten einen Brief ans Christkind schreiben und uns wünschen, dass die zwei aufhören zu streiten.“
„Wir können bisher nur vier Buchstaben!“, flüsterte Emil. „Aber es gibt jemanden, der nicht nur alle Buchstaben kennt, sondern nichts lieber macht, als Briefe zu schreiben.“ Am nächsten Tag packten Emma und Emil einen großen Teller mit Weihnachtskeksen sowie all ihren Mut zusammen und gingen ein Stockwerk tiefer zu Herrn Posch.
Es dauerte lange, bis die Tür aufschwang und Herr Posch leise krächzte, so als benutzte er seine Stimme heute zum ersten Mal: „Ja?“ Emil schluckte ein Knäuel Nervosität herunter. „Wollen Sie uns helfen, einen Brief an das Christkind zu schreiben? Wir können mit Keksen bezahlen, die sind sogar selbst gebacken.“
Herr Posch roch nach altem Sofakissen und unter dem ausgeblichenen Hausmantel trug er einen Pyjama, obwohl es bald Zeit für die Abendjause war. „Ich habe schon seit Jahren keine selbst gebackenen Kekse mehr gegessen! Also gut. Aber bringt bloß nichts durcheinander!“
Emil und Emma folgten ihm vorbei an Wänden, vor denen sich in Zweierreihen Türme von bedruckten Zetteln stapelten. „Haben Sie das alles selbst geschrieben?“, fragte Emma. „Natürlich!“, sagte Herr Posch und streckte stolz den Rücken durch. „Die Menschen werden immer dümmer, aber ich weise sie darauf hin! Die Briefe auf dieser Seite gingen an Politiker, die etwas Dummes machen. Hier sind Briefe an Journalistinnen, die Dummes schreiben. Dort Briefe an alle Menschen, die in öffentlichen Texten Rechtschreibfehler gemacht haben.“
Herr Posch setzte sich an seinen Computer, eine große beige Röhre, wie sie Emil und Emma vom Flohmarkt kannten. „Also, wer hat etwas Dummes gemacht?“, fragte Posch. „Unsere Eltern“, sagte Emil. „Sie streiten ständig, weil wir so wenig Geld haben. Wir wünschen uns vom Christkind, dass sie damit aufhören.“
Herr Posch nahm sich zwei Weihnachtskekse. Dann krempelte er die Ärmel hoch und hackte in die Tasten wie ein Huhn, das Körner vom Boden pickt. Sein Brief an das Christkind wurde vierzehn Seiten lang. Herr Posch las ihn vor, Emil und Emma verstanden zwar nicht alle Ausdrücke, doch sie waren sich einig: Dieser Brief war ein Meisterwerk.
„Die Kekse sind übrigens hervorragend. Wenn ihr mehr davon habt, schreibe ich euch Briefe an dumme Lehrer oder dumme Mitschüler“, sagte Herr Posch zum Abschied, von oben bis unten mit Bröseln bedeckt.
Tags darauf wollten Emma und Emil mit Papa eislaufen gehen, als plötzlich eine Sirene ertönte. Sie liefen ans Fenster und beobachteten ein Rettungsauto, das mit Karacho durch die Hofeinfahrt rauschte. Rettungssanitäter sprangen heraus, liefen hektisch in den ersten Stock, kamen kurze Zeit später mit Herrn Poschs alter Tante auf einer Trage zurück und brausten unter Sirenengeheul davon. „Oh je“, sagte Emma. „Das sieht nicht gut aus.“
Am 24. Dezember zeigte der Brief, den Herr Posch in Emils und Emmas Namen an das Christkind geschrieben hatte und den die beiden auf dem Küchentisch hatten liegen lassen, Wirkung. Mama und Papa waren wie ausgewechselt. Statt zu klagen, dass sie nie wieder so eine schöne, gut gelegene Wohnung finden würden, sagten sie nun, dass es doch egal sei, wo sie lebten: Hauptsache, sie hätten einander lieb. Sie gaben sich unentwegt Bussis und lachten viel. Emil und Emma mussten jedoch daran denken, was Herr Posch geschrieben hatte: Weihnachten ist das Fest der Besinnung, man sollte sich über das freuen, was einem das Leben Gutes geschenkt hat, anstatt über das zu klagen, was einem fehlt. Weihnachten ist auch das Fest des Vergebens. Wann sonst sollte man über die Schwächen anderer hinwegsehen?
Als es dunkel wurde und die Eltern den Christbaum für die Bescherung vorbereiteten, stahlen Emma und Emil die große Keksdose und schlichen einen Stock tiefer. Herr Posch bekam feuchte Augen, als er ihnen die Tür öffnete. „Frohe Weihnachten“, sagten Emil und Emma im Chor. „Was für eine Überraschung! So viele Kekse!“, sagte er und fügte hinzu: „Wollt ihr hereinkommen? Ich kann euch Packerlsuppe machen.“
Emma und Emil erklärten ihm verlegen, dass sie nicht könnten: Zuhause gäbe es später Weihnachtsgans. Dann sahen sie einander an und dachten an denselben Satz aus Herrn Poschs Christkindbrief: Weihnachten ist das Fest des Miteinanders.
Große Weihnachtsgans
Normalerweise mussten die Kinder vorher fragen, wenn sie Freunde zum Essen mitbrachten – doch die Gans reichte für zehn Personen, und Emma und Emil aßen sowieso lieber Knödel mit Rotkraut anstatt Fleisch. Und so fragte Emma: „Herr Posch, wollen Sie mit uns essen?“ Herr Posch zögerte, doch die Kinder bettelten ihn an, bis er einwilligte.
Mama und Papa staunten Bauklötze, als Emil und Emma mit dem Vermieter an der Hand zurückkamen. Doch sie waren so beseelt von den netten Worten aus dem Christkindbrief, dass Papa sofort ein weiteres Gedeck auf dem Tisch platzierte und Mama Herrn Posch ein Glas Sekt anbot.
Bald fühlte sich Herr Poschs Anwesenheit an, als wäre sie lange geplant gewesen. Er lobte das Essen so überschwänglich, dass Mama und Papa rote Wangen bekamen. Später sangen sie Weihnachtslieder und Herr Posch war der einzige, der alle Strophen von Stille Nacht konnte.
Nach der Bescherung half er Emil und Emma, ihr neues Lego zusammenzubauen, während Mama und Papa auf dem Sofa kuschelten und einen besonders guten Rotwein tranken. Die Sorgen der Familie waren plötzlich weg, und niemand dachte daran, dass Herr Posch derjenige war, der sie in die missliche Lage gebracht hatte. Als es Schlafenszeit war, bedankte er sich lang, dass er mit der Familie hatte feiern dürfen. Zum Abschied sagte er: „Es tut mir sehr leid, aber Sie müssen trotzdem ausziehen.“ Emil und Emma waren zu müde, um mitzubekommen, wie ihnen Herr Posch verräterisch zuzwinkerte. Früh am Weihnachtsmorgen flatterte dann ein merkwürdiger Brief durch den Schlitz, er war nur eine Seite lang: Liebe Familie, schrieb Herr Posch, Ich habe gestern gemerkt, dass Ihre Anwesenheit eine Bereicherung für das Haus ist: Denn wo sich Menschen lieb haben, da geht es allen besser, die das miterleben dürfen. Das hier ist mein letzter Brief, denn ab jetzt sollten wir miteinander reden, anstatt einander böse zu schreiben.
Im Kuvert lagen zudem die Schlüssel für eine noch größere und schönere Wohnung im dritten Stock. Herr Posch wollte, dass sie dort einzogen, damit jedes Kind ein eigenes Zimmer bekam. Und dafür mussten sie sogar weniger zahlen als jetzt. Papa weinte vor Freude, Mama sprang in die Luft, Emma und Emil liefen hinunter zu Herrn Posch, um ihn zu fragen, ob er mit ihnen einen Schneemann bauen wollte.
Dieses Weihnachtsfest hatte ein Wunder vollbracht: aus einem Feind war ein Freund geworden. Vielleicht geschah ja ein zweites Wunder und sie durften sogar im Vorgarten spielen, obwohl das in der Hausordnung streng verboten war.
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