Regisseur Juho Kuosmanen über "Abteil Nr. 6“: Reise mit rüdem Russen
Eine Finnin reist im Zug durch Russland und bekommt einen penetranten, russischen Reisebegleiter. Juho Kuosmanen über Putin und Propaganda
Eine finnische Studentin namens Laura will von Moskau per Bahn nach Murmansk reisen, um dort berühmte Felszeichnungen zu bewundern. Eigentlich hätte sie die Fahrt mit ihrer Freundin und Geliebten antreten sollen, wurde aber in letzter Sekunde versetzt. Als sie allein und deprimiert die Tür zu ihrem reservierten Zugabteil öffnet, grinst ihr schon ein junger Russe entgegen: „Bist du eine Nutte?“
Die Reise fängt gut an.
Der Mitfahrer – er heißt Ljoha und ist Bergarbeiter – erweist sich als besonders penetrant. Er raucht wie ein Schlot, schüttet Unmengen von Wodka in sich hinein, beißt krachend in seine Bockwurst und geht Laura von der ersten Sekunde an auf die Nerven.
Und die Zugreise dauert mehrere Tage und Nächte ...
„Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen erwies sich als Überraschungshit in Cannes.
Schon mit seinem ersten Langfilm, dem Boxer-Drama „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ (2016) konnte der 42-jährige Finne reüssieren; sein lakonisches Zug-Roadmovie „Abteil Nr. 6“, das im Russland der späten 90er Jahre angesiedelt ist, brachte ihm umgehend den Großen Preis der Jury in Cannes ein.
Noch nie in seinem Leben sei ein Krieg so nahe an seine Haustür gerückt, beschreibt Juho Kuosmanen im KURIER-Interview sein bedrücktes Gefühl angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: „Der Umstand, dass es unser Nachbar ist, der diesen Krieg führt, ist umso erschreckender.“
Der Krieg habe auch die Bedeutung seines Films verändert, findet Kuosmanen: „Eigentlich ist ,Abteil Nr. 6‘ kein politischer Film im klassischen Sinn. Er versucht nicht, eine klare Botschaft hinüberzubringen. Aber er ist insofern politisch, als er gewisse Werte und einen bestimmten Blick auf die Welt vertritt. Mein Film ist zutiefst human. Er glaubt an die guten Absichten der Menschen. Und gerade das fühlt sich im Moment als großer Widerspruch zum politischen Weltgeschehen an.“
Tatsächlich erweist sich der rüde Russe, gespielt von Yuriy Borisov (der, zumindest vor Beginn des Krieges, als russischer Shootingstar galt) im Grunde seines Herzens als gutmütiger Typ; ebenso die bissige Schaffnerin, die alle Reisenden herumkommandiert.
Trotz der widrigen Umstände freunden sich Ljoha und Laura an. Bislang kannte Laura nur die Moskauer Elite aus dem Akademikermilieu. Durch Ljoha trifft sie auf Menschen aus ärmeren und provinziellerem Schichten, abseits der großen Städte.
Russenhass
„Als mein Film letztes Jahr in Russland gezeigt wurde, waren die Zuschauer begeistert. Sie meinten, sie hätten sich nie gedacht, dass ein ausländischer Regisseur so einen schönen und wahrhaftigen Film über Russen machen könnte“, erzählt Kuosmanen: „Nach und nach wurde mir dann immer klarer, wie viel davon auf Putins Propaganda zurückgeht. Er redet den Leuten ein, dass die ganze Welt sie hasst, dass alle Menschen russenfeindlich sind. Allein die Tatsache, dass meine russischen Figuren Würde und Anstand besitzen, läuft der Propaganda Putins zuwider, die behauptet, dass Putin allein das russische Volk vor dem Hass der Ausländer retten könnte.“
„Abteil Nr. 6“ basiert auf dem Roman der finnischen Autorin Rosa Liksom und spielte ursprünglich in den 80er Jahren. Kuosmanen transponierte seine Filmadaption in die späten 90er Jahre. Zum einen war es leichter, historische Details authentischer einzufangen. Zum anderen wollte er, dass seine Russlandreise Ende der 90er Jahre, also noch vor der Wahl Putins zum Präsidenten, stattfindet: „Zu diesem Zeitpunkt gab es noch Hoffnungen und Möglichkeiten für Russland“, sagt Juho Kuosmanen: „In Putins Russland ist es damit vorbei.“
INFO: FIN/RUS/EST/D 2021. 107 Min. Von Juho Kuosmanen. Mit Seidi Haarla, Yuriy Borisov.
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