Plötzlich waren Böll und Brecht nicht mehr so wichtig

Celestino Piatti: Der 100. Geburtstag einer Marke, die Bücher zur Marke machte

Nichts gegen Bachmann, Böll, Brecht ... aber wenn man zurückdenkt: Bestimmt hat man so manches dtv-Buch in den 1970ern, 1980ern vor allem wegen des Umschlags gekauft ...

Die Literaturklassiker waren auch Designklassiker.

Elf Verleger – Hanser, Piper, Kiepenheuer & Witsch ... – gründeten 1960 eine gemeinsame Taschenbuchreihe: den Deutschen Taschenbuchverlag. Unter den Kandidaten für die Gestaltung war der Schweizer Grafiker Celestino Piatti.

6.000 Mal

Er kam aus Basel nach München und schlug vor:

Weißer Hintergrund (nicht bunt, wie es damals üblich war – und wieder ist), oben rechtsbündig in schwarzer Schrift (Akzidenz-Grotesk, halbfett) Autor und Titel, unten eine Illustration ... und als Verlagsname lieber die Abkürzung dtv.

Gekauft.

Piatti prägte die Marke dtv mehr als 30 Jahre (und dtv die Marke Piatti). Bis 1996, als sich Publikum und Programm änderten. Unterhaltung war gefragt. Nüchternheit war gar nicht mehr gefragt.

6.000 Bücher gestaltete er, beginnend mit Nummer 1 – Heinrich Böll, Irisches Tagebuch. Anfangs waren es 20 Taschenbücher im Jahr, dann 70. (Heute sind es 500.) Der Wiedererkennungswert war enorm, obwohl sich Aquarell, Tuschzeichnung, Linolschnitt, Fotomontage abwechselten.

Zwei Kilo

Man rechnet, dass insgesamt 200 Millionen Exemplare mit Piatti vorne im Umlauf sind bzw. waren. War die Kunst des Schweizers „Gebrauchsgrafik“?

Ihn störte der Begriff nicht, im Gegenteil: Er kam aus einer Handwerksfamilie im Tessin, Vater war Maurer.

Celestino Piatti starb 2007. Sein 100. Geburtstag naht (5. Jänner). Sein Werk liegt in einer Lagerhalle. Wenn es im großformatigen, mehr als zwei Kilo schweren Prachtband gewürdigt wird, fragt man sich wieder, warum es nicht kalt lässt, sondern Emotionen auslöst.

Tochter Barbara, eine Kulturhistorikerin, sagt: „Jedes Objekt war bei ihm beseelt.“

Am liebsten Eulen

Das könnte die Antwort sein. Er holte die Seele hervor. Egal, ob er das Cover für Selma Lagerlöfs Nils Holgersson gestaltete oder Plakate für Rolex, Knorr, Gauloises, Pro Juventute, gegen Atomkraft, für Umweltschutz und so weiter. Die Lagerhalle ist voll mit Entwürfen und Vorentwürfen. Für einen Buchumschlag, Bertolt Brecht betreffend, unternahm er 28 Versuche, ehe ihm das Gesicht passte.

Am öftesten zeichnete Celestino Piatti Eulen.

Eulen, die nicht nach Kaninchen greifen, sondern nach einem Buch. Sind ja g’scheite Räuber. In seinem ersten Atelier und Wohnhaus, so erinnert sich die älteste Tochter Sabine, hielt er einen Waldkauz in einer begehbaren Voliere, der sich auf dem Kopf streicheln ließ.

Im zweiten Haus mit zweiter Familie intervenierte er bei der Gemeinde, bis die Straße in Eulenweg umbenannt wurde.

„Alles, was ich male, hat Augen“: Man erfährt in diesem Buch auch Privates über den Familienmenschen Celestino Piatti; und es ist schön, wenn der Mensch, dessen Kunst man so mag, ein Mensch war, den man gemocht hätte.

Schön ist das und selten.

Celestino
Piatti:
„Alles, was ich male, hat Augen“
Herausgegeben von Barbara Piatti und Claudio
Miozzari.
Merian Verlag/ dtv.384 Seiten.
60,70 Euro

KURIER-Wertung: *****

 

Foto oben: Piattis Versuche, Brecht mit Tusche und Pinsel zu malen

Foto unten: Das fertige Brecht-Cover für dtv, 1965

 

©Verlag
Peter Pisa

Über Peter Pisa

Ab 1978 im KURIER, ab 1980 angestellt, seit November 2022 Urlaub bzw. danach Pension. Nach 25 Jahren KURIER-Gerichtsberichterstattung (Udo Proksch, Unterweger, Briefbomben) im Jahr 2006 ins Kultur-Ressort übersiedelt, um sich mit Schönerem zu beschäftigen. Zunächst nicht darauf gefasst gewesen, dass jedes Jahr an die 30.000 Romane erscheinen; und dass manche Autoren meinen, ihr Buch müsse unbedingt mehr als 1000 Seiten haben. Trotzdem der wunderbarste Beruf der Welt. Man wurde zwar immer kurzsichtiger, aber man gewann an Weitsicht. Waren die Augen geschwollen, dann Musik in wilder Mischung: Al Bowlly, Gustav Mahler, Schostakowitsch und immer Johnny Cash und Leonard Cohen.

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