Wie lernt man, Nein zu sagen?

Wie eine "People Pleaserin" das Nein-Sagen lernte

Wer immer nur Ja sagt, wird nicht nur unglücklich, sondern auch krank. Warum eine gewisse Portion Egoismus gesund ist - und wie die deutsche Kabarettistin Martina Schönherr ihren Weg zum Nein gefunden hat.

Als Kabarettistin auf der Bühne nimmt sich Martina Schönherr kein Blatt vor den Mund, in ihrem Job als Radiomoderatorin ist sie klar und direkt – doch im Alltag? Wenn sie von der Nachbarin angeschnauzt wird, warum sie sich nicht in den Waschmaschinenkalender eingetragen hat. 

Wenn die Bekannte, der sie trotz Erschöpfung nicht absagen konnte, drei Stunden ohne Pause oder Rückfrage spricht. Oder wenn ihr die Schwiegermutter zur Begrüßung ungefragt einen Kuss auf den Mund drückt? Dann nickt sie, lächelt und holt am besten noch zur Rechtfertigung aus.

Martina Schönherr will nicht anecken, niemanden verletzen, niemals verärgern. Und damit ist sie kein Einzelfall. Eine YouGov-Studie unter 1.000 Amerikanern hat vergangenes Jahr ergeben, dass sich 49 Prozent der Befragten, als sogenannte People Pleaser sehen. Frauen zählten sich mit 56 Prozent eher zu dieser Gruppe als Männer (42 Prozent).

"People Pleaser" oder Ja-Sager, erläutert Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, sind Personen, die ein großes Bedürfnis haben, anderen zu gefallen. "Sie möchten es den Menschen in ihrem Umfeld recht machen und vermeiden Konflikte aus Angst vor Ablehnung."

Ja-Sagen als Krankheitsauslöser

Doch ein ständiges Ja-Sagen ist nicht nur deshalb schädlich, weil diese Personen nie wirklich zu dem kommen, was sie eigentlich möchten. Es kann auch krank machen. Ja-Sager sorgen sich nicht nur um andere – sie tun dies auf ihre eigenen Kosten. "Sie überschreiten dabei häufiger ihre eigenen Grenzen und vernachlässigen sich selbst", ergänzt Psychotherapeutin Haid

Martina Schönherr 

©Martina Schönherr

"Das kann zu einer inneren Leere und Erschöpfung führen." Wird der Stress chronisch, können Depressionen und Angstzuständen, aber auch Burnout oder Herzprobleme auftreten. 

Eine Studie an der Case Western Reserve University in Ohio zeigte zudem, dass sich People-Pleasing in übermäßigem Essen äußern kann.

Ein ständiges Ja-Sagen ist schädlich.

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In der Studie wurden 101 Studierende mit Soziotropie - der medizinische Begriff für die Neigung, Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen – mit versteckten Schauspielern zusammengeführt. Der Versuchsleiter reichte dem Schauspieler eine Schale mit M&Ms. Der Schauspieler nahm etwa fünf Dragees und bot die Schale dem Studierenden an. Jene mit hoher Soziotropie nahmen dabei mehr Süßigkeiten.

"People-Pleaser verspüren einen stärkeren Druck zu essen, wenn sie glauben, dass ihr Essen dazu beiträgt, dass sich eine andere Person wohler fühlt", sagte Studienleiterin Julie Exline im Time Magazine.

Das Versuchsjahr

Um es nicht so weit kommen zu lassen, hat Martina Schönherr einen Versuch gestartet: sich in einem Jahr von der People Pleaserin in ihr zu verabschieden. In ihrem Buch "Seh ich aus wie 'ne Frikadelle oder warum gibt jeder seinen Senf dazu" (GU Verlag) nimmt sie die Leser auf ihre Erfahrungsreise mit. 

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Bereits eine Woche nach ihrem Vorsatz ist ihr Kampfgeist aber verschwunden. Das zweistündige Meeting lässt sie beschwerdelos über sich ergehen. 

Psychotherapeutin Barbara Haid nimmt den Druck: "Gewohnheiten lassen sich nicht über Nacht ablegen. Die wichtigsten ersten Schritte liegen deshalb darin, die dysfunktionalen Verhaltensmuster zu erkennen, zu benennen und zu überlegen, was dahinterstecken könnte."

Die Gründe sind mannigfaltig, doch oft kommt das Ja sagen, von einem geringen Selbstwertgefühl. Das hat wiederum mit unserer Sozialisation und unserem Wertesystem zu tun. 

Gesunden Egoismus aufbauen

Wenn man aber auf seine eigenen Bedürfnisse hört, wird man da nicht schnell egoistisch?

"Wie bei so vielen Dingen macht die Dosis das Gift", erwidert Barbara Haid. "Gesunder Egoismus ist kein Narzissmus." Sie erinnert an die Sicherheitsanweisungen des Bordpersonals im Flugzeug. Wenn es um die Sauerstoffmasken geht, heißt es: Kümmern Sie sich zunächst um sich selbst, dann um ihren Nachbarn. Und das trifft auch auf unser Leben zu: Nur wenn wir auf uns selbst schauen, können wir im Guten für andere da sein.

©APA/EVA MANHART

Mit kleinen Handlungen beginnen

Wie kommt man also am besten ins Tun? Mit kleinen Handlungen beginnen, meint Haid. "Zum Beispiel: eine Atempause einlegen, wenn jemand fragt, ob man eine Aufgabe übernehmen kann. Zu sagen: Puh, da muss ich jetzt nachdenken."

Wichtig: "Man muss den Moment aushalten, wenn das Gegenüber vielleicht enttäuscht ist." Meist ist nur ein ganz geringer Teil beleidigt. "Und über diese Menschen ist es mittelfristig nicht schade." Das seien Energievampire.

Nach einigen Monaten schildert Martina Schönherr in ihrem Buch, dass sie bei den Schwiegereltern eingeladen ist. Sie hat Kopfweh, keine Lust auf Alkohol. Doch als sie nach Wasser bittet, grinst ihr Schwiegervater und fragt, ob sie zu viel getrunken habe.

Martina Schönherr bittet ihren Schwiegervater um ein Glas Wasser

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Martina denkt an ihr Experiment. "Weißt du, Schwiegervati, ich habe gerade meine Periode und die bringt nicht nur Blutungen mit sich, sondern oft auch starke Unterleibs- und Kopfschmerzen. Deswegen gerne nur ein Wasser für mich."

Der Schwiegervater bringt - wortlos, aber mit hochrotem Kopf - das Wasser. Und Martina feiert ihren ersten Etappensieg.

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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