Lisz Hirn über das neue Menschsein: "Es geht um die Sicht auf uns selbst"
Die Philosophin Lisz Hirn wirft einen neuen Blick auf unseren Lebensstil in der aktuellen Zeit. Worauf kommt es wirklich an? Welche Fragen sollten wir uns stellen? Welche Auswirkung haben technologische Entwicklungen auf unseren Lifestyle? Ein Gespräch über die Zukunft des Alltags und über das neue
Die Welt verändert sich – und mit ihr die gesamte Gesellschaft und unser Zeitgeist. Zwischen Smartphone und ChatGPT, zwischen neuen Ernährungsformen und digitalen Filterblasen stehen wir vor vielen Herausforderungen gleichzeitig und wissen: Die Welt von morgen wird unseren Lifestyle prägen, ebenso wie unseren Arbeitsalltag. Wie genau all dies dann aussehen wird, lässt sich noch nicht vorhersagen. Eine Annäherung daran versucht Philosophin Lisz Hirn zu schaffen, indem sie sich mit dem Menschsein in neuen Zeiten auseinandersetzt und darüber nun ein Buch geschrieben hat.
Wir leben in turbulenten Zeiten: Die Pandemie und ihre Folgen, Krieg, Krisen, Klimawandel, der Vormarsch der Künstlichen Intelligenz. Ist das bald zu viel für das Wesen Mensch?
Ja, denn jeder bemerkt auch im Alltag, dass man an Grenzen stößt. Gewisse Phänomene kann man gar nicht mehr durchschauen, selbst wenn man sich damit auseinandersetzt.
Zum Beispiel?
Viele begannen während der Pandemie, sich nicht nur für Medizin, sondern auch für Forschung und Impfung zu interessieren. Das sind aber komplexe Angelegenheiten, die man nicht einfach schnell mal lernt. Man muss sich damit über Jahre intensiv beschäftigen. Wir sind derzeit mit einer großen Anzahl komplexer Themen konfrontiert. Jetzt ist die Frage: Wie gehen wir damit um?
Welche Rolle kann die Philosophie dabei spielen, oder wie kann sie helfen?
Was mich an der Philosophie immer fasziniert hat, ist, dass sie einen Moment in Themen bringt, die wir in der Wissenschaft und zunehmend auch in der Gesellschaft vermissen.
Welchen?
Den Moment des Nachdenkens, der Besinnung. Wo stehen wir? Was ist gerade da? Welche Fragen müssen wir uns jetzt stellen? Die Philosophie ist die Disziplin, die nicht absolutes Wissen produziert, sondern anregt, Problematiken herauszuarbeiten und die richtigen Fragen zu stellen.
Viele Problematiken werfen aber viele Fragen auf – und das im selben Zeitrahmen. Gab es das in dieser Dichte in der Geschichte der Menschheit schon einmal?
Davon bin ich überzeugt, wobei wir über die Vergangenheit ja nur spekulieren können. Besonders herausgefordert war die Menschheit etwa im Zeitalter der Industriellen Revolution. Damals waren wir schon einmal an dem Punkt, uns zu fragen: Wie ändert sich die Welt durch Maschinen und Technologien? Wie wird Arbeit in Zukunft funktionieren? Wie ernähren wir uns künftig? Es gab auch kleinere Revolutionen, etwa ortsbegrenzt durch die Abnabelung von ehemaligen Kolonien. Doch Europa war schon lange nicht mehr gleichzeitig mit so vielen herausfordernden Szenarien konfrontiert wie heute. Man könnte sagen: Shit happens. Manchmal kommen Dinge zusammen. Die Frage ist, wie bewältigen wir das und welche Möglichkeiten sehen wir? Wie definieren wir uns im Angesicht dieser Herausforderungen?
Wie kann so eine Definition aussehen?
Es geht darum, wie wir uns als Menschen neu positionieren. Wir überschätzen uns nämlich, und das macht uns verletzlich. Ein Beispiel: Wir sehen bei der Klimakatastrophe, dass es nicht so weitergehen kann. Die Überschätzung fängt schon damit an, zu behaupten, der Mensch könnte die Bedrohungslage gänzlich erfassen. Wir sind und handeln nicht so vernünftig wie wir glauben. Es geht also um die Sicht auf uns selbst. Wir sind nicht mehr oder weniger wert als andere Lebewesen, es geht im Vergleich zu diesen aber um die Verantwortung und die Handlungsmöglichkeiten, die wir beispielsweise durch unser Bewusstsein haben. Was macht es mit uns, wenn wir uns höher stellen und diese Verantwortung gleichzeitig nicht wahrnehmen?
Mit der Gegenüberstellung von Mensch und Tier hat sich einst Aristoteles beschäftigt. Seine These: "Niedrigeres Seelenvermögen“ bildet das Fundament für das nächsthöhere. Sprich: Pflanzen existieren um der Tiere willen, Pflanzen und Tiere existieren um des Menschen willen. Diese "Hierarchie der Naturreiche“ prägt bis heute. Was halten Sie davon?
Im Laufe der Menschheitsgeschichte gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Sichtweisen, doch eine ist besonders stark ausgeprägt, nämlich, dass der Mensch etwas Besseres, Höheres ist. Das ist interessant, denn man könnte auch sagen, wir seien gleich gut wie alles andere. Doch dieses „Bessersein“ macht etwas mit uns. Es führt oft leider nicht dazu, dass mehr Verantwortung übernommen oder zum Gelingen einer Gemeinschaft beigetragen, sondern mehr Missbrauch ausgeübt wird. Wir sehen es etwa bei Kriegsszenarien. Wir haben es scheinbar nicht geschafft, unseren zivilisatorischen Fortschritt bis jetzt zur Entfaltung zu bringen.
"Das Hinterfragen des Fleischkonsums sehe ich als Fortschritt. Doch es gibt ein Aber: Ich sehe, dass dies dazu genutzt wird, um Gruppen zu bilden.“
Lisz Hirn
Woran liegt das?
Aus Sicht der Philosophie stellt man sich die Frage: Ist es ein schlechtes oder ein gutes Wesen? Ich verweise auf Thomas Hobbes, der sagte: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Damit wurde begründet, dass man einen starken Souverän braucht. Doch es gibt auch einen Jean-Jacques Rousseau, der sagt: Zurück zur Natur, der Mensch ist an sich gut. All diese Modelle ringen damit, den Menschen zu verorten. Nicht nur jede Zeit, auch die Technologien stellen uns in Frage. Das muss nicht negativ oder destruktiv sein. Es könnte eine Chance sein, sich neu zu verorten und sich zu fragen: Inwieweit nützen wir diese neuen Möglichkeiten? Es ist an der Zeit, diesen Diskurs zu starten. Man muss nicht alles machen, was möglich ist.
Wovon sollte man Ihrer Meinung nach Abstand nehmen?
Ein Beispiel ist das Nutzen des Internets, hier stellt sich die Frage: Sehen wir uns als soziale Wesen, die dadurch mit allen verbunden sind, oder als technologisch allmächtige Wesen, die plötzlich und jederzeit Zugriff auf alle möglichen Arten von Wissen haben? Von dieser Art technologischen Göttlichkeit hat die Menschheit Jahrhunderte geträumt.
Und plötzlich wird der Traum wahr. Das ist doch gut, oder?
Jetzt kommt die philosophische Antwort, die für viele nicht befriedigend sein wird: Es ist neutral. Jede Technologie hat ihre Tücken, aber es geht um die Integrität, die wir – also die Benutzer von Maschinen und Technologien – von vornherein haben.
Die Entwicklung von Technologie ist aber oft schneller als die kritische Auseinandersetzung damit. Denken wir etwa an den Umgang mit Social Media – das wurde erst Thema, auch in Schulen, als die Netzwerke bereits etabliert waren. Ist die Digitalisierung also eine Gefahr?
Nicht per se, aber: Wenn ich weiß, dass mich eine App süchtig macht, kann ich bewusster damit umgehen. Denn bei Apps wird nichts dem Zufall überlassen: Wie sind wir zu triggern? Wie stimuliert man unsere Bedürfnisse? Wie kann man uns manipulieren? Der digitalen Technologie nicht vollkommen ausgeliefert zu sein, sondern sie meistern zu können, das wäre schon ein lohnendes Ziel.
Welche Lösungsszenarien sehen Sie dabei?
Es gibt einiges, das für den Einzelnen nicht zu lösen ist, etwa wenn wir über Urheberrechte, Arbeitsrechte oder den Einfluss digitaler Plattformen auf die Politik sprechen. Aber ganz ohnmächtig sind wir auch nicht: etwas einmal nicht zu posten, nicht zu teilen, eine App nicht zu verwenden, wenn nicht klar ist, was dabei zum Beispiel mit meinen Daten passiert.
Sie schreiben in Ihrem Buch: Falls die Menschen zur Überzeugung gelangen, dass virtuelle Blasen die Gesellschaft repräsentieren, wird die politische Gemeinschaft zerstört sein. Inwiefern?
In der politischen Philosophie stellt sich die Frage: Was soll Politik eigentlich bewirken? Geht es nicht darum, ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu schaffen, in einer Welt, die nicht ausgewogen ist, in der es kriselt, in der nicht jeder Wohlstand hat? Darum, Leid zu vermeiden und zu versuchen, das Leben aller zu verbessern? Blasen sind gefährlich, weil wir die anderen Meinungen nicht mehr hören. Wenn wir über das, was wir gerecht und ungerecht finden, nicht mehr sprechen können, wird es kritisch.
Ist das bereits der Fall?
Es gibt Anzeichen dafür, ja. Ich bin aber optimistisch, weil das Bedürfnis, über Politik und Politiker zu sprechen, noch da ist. Glaubwürdigkeit und Integrität sind immer noch wichtig, und die kann man live immer noch am besten transportieren.
Gutes Leben zeigt sich auch an der Ernährung. Zurückkommend auf Aristoteles und seine These der Wesens-Hierarchie: Was bedeutet es, wenn Menschen immer weniger Fleisch essen?
Bisher dominierte der Ansatz, dass wir ganz selbstverständlich auf die Natur zugreifen und damit auch auf Tiere. Das Hinterfragen des eigenen Fleischkonsums sehe ich als Fortschritt. Doch es gibt ein Aber: Ich sehe nämlich auch, dass dies dazu genutzt wird, um Identitäten zu schaffen und Gruppen zu bilden. Es geht mir zu schnell in die Richtung: Was ist moralisch gut, was böse? Eine Reduktion des Fleischkonsums ist wesentlich für eine ökologischere Zukunft, aber lassen wir das einmal beiseite. Was mich interessiert: Was macht es für unser Selbstverständnis aus, und ändert es unseren Umgang mit Tieren? Neben Aristoteles hat sich auch der Philosoph Jacques Derrida mit dem Tier beschäftigt. Er fragt treffend: Was ist denn dieses "Tier“, von dem wir sprechen? Er meint damit: Wir verpacken den Begriff so schlampig. Es gibt nicht "das“ Tier.
Welchen Thesen anderer können Sie für die Gegenwart etwas abgewinnen?
Ich finde die Arbeiten der amerikanischen Professorin Donna Haraway spannend, sie setzt sich mit einer interessanten Theorie auseinander: Wie könnte es eine Art Verbindung oder Partnerschaft über Speziesgrenzen hinweg geben? Das klingt für viele radikal, wobei am wenigsten noch für Haustierbesitzer. Es geht darum, dass wir alle Wesen symbiotisch wahrnehmen und uns fragen: Wo überlappen sich Systeme? Und welche Auswirkungen hätte diese Wahrnehmung auf die Politik?
Und zwar welche?
Der kürzlich verstorbene Philosoph Bruno Latour hat etwa ein „Parlament der Dinge“ angedacht. Was wäre, wenn man auch Dingen eine Stimme gibt, die sich nicht selbst vertreten können, zum Beispiel Flüssen? Freilich ist das schwer umzusetzen, aber es geht ja um die Idee an sich. Auch um die Auseinandersetzung mit uns selbst, die Haraway thematisiert: Sie meint, wir echauffieren uns über künstliche Intelligenzen und Technologien – aber wenn jemand seine Augen gelasert oder einen künstlichen Hüftknochen hat, nutzen sie unserem Wohlsein. Woher kommt eigentlich diese Schizophrenie? Mensch und Technik standen immer schon in einer engen Verbindung.
Die Künstliche Intelligenz wird die Arbeitswelt verändern. Wenn uns Roboter eines Tages alle Arbeit abnehmen sollten, welche Aufgabe hat der Mensch dann?
Ich verfolge diese Diskussionen amüsiert, manchmal sehe ich darin die verzweifelte Suche nach der Besonderheit des Menschen. Es gibt große Bereiche, die sozial mäßig geschätzt und nicht gut entlohnt werden, in denen Maschinen noch lange nicht, wenn überhaupt jemals, übernehmen werden. Es gibt genug zu tun und zu forschen, jenseits von bürokratischen Aktivitäten. Wir haben zum Beispiel großen Bedarf, wenn es um Sorgearbeit geht, nicht nur in der Pflege, sondern auch in Erziehung und Bildung.
Aber nicht alle wollen diese Jobs machen.
Ja, aber es werden auch andere Arbeiten erhalten bleiben, die den Menschen als Wesen brauchen. Etwa in der Kultur: Wir haben die Möglichkeit, mittels künstlicher Intelligenz nicht nur Bilder malen zu lassen, sondern auch Musikstücke zu komponieren – und zwar in viel schnellerem Tempo als Menschen es können. Andererseits kann nur ein Mensch das Live-Erlebnis transportieren. Nun stellt sich die Frage: Was ist mehr wert? Zahlen wir für das Werk eines Künstlers mehr oder weniger oder gleich viel wie für das eines Roboters?
Wie schnell kann der Mensch Veränderungen annehmen?
Der Mensch ist ein "Gewohnheitstier“. Lieb gewonnene Gewohnheiten ändert man ungern, auch wenn es um Fortschritt geht. Wirklich "out of the box“ zu denken, ist ganz schön schwierig. Und so hat auch die Politik Probleme, größere Veränderungen herbeizuführen – denken wir etwa an die Maßnahmen in Sachen Klimawandel. Die Frage wird sein: Wie können wir gut und integer kommunizieren und dadurch mobilisieren?
Wie kann das gelingen?
Ich glaube, es ist wichtig, eine Vision oder auch eine Utopie zu zeichnen, wo wir hinwollen. Ich glaube nicht an einen Deus ex Machina, also an eine Technologie, die uns retten wird. Im Gegenteil, ich halte das sogar für sehr gefährlich. Was mir fehlt, auch aus der Politik, ist ein Zukunftsszenario, bei dem wir alle dabei sein wollen.
Was wäre denn so ein für alle perfektes Szenario?
Wenn Sie mich fragen, was ich persönlich vertrete, habe ich natürlich eine Antwort.
Was vertreten Sie persönlich?
Für mich geht es darum, nicht nur die eigene Stellung in unserer Um- und Mitwelt neu zu definieren, sondern eine Politik zu schaffen, an der sich möglichst viele Menschen beteiligen wollen. Was ja der Sinn von Demokratie ist. Doch im Moment wäre ich schon zufrieden, wenn wir es schaffen würden, kurz innezuhalten in dieser Überspanntheit zwischen technologischen Hypes und der Verzweiflung im Angesicht von Teuerung und Klimakatastrophe. Stattdessen eine Stopptaste, die wir drücken könnten und die uns ein kurzes Durchatmen erlaubt.
(freizeit.at, JT)
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Über Marlene Auer
Chefredakteurin KURIER-freizeit. War zuvor Chefredakteurin bei Falstaff und Horizont Österreich, werkte auch als Journalistin im Bereich Chronik und Innenpolitik bei Tages- und Wochenzeitungen. Studierte Qualitätsjournalismus. Liebt Medien, Nachrichten und die schönen Dinge des Lebens.
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