Als CIA-Agentin, die sich als junge Ehefrau in den Flitterwochen tarnt, hat Jessica Chastain die Nase vorn: „The 355“
Filmstarts

Filmkritik zu "The 355“: Agentinnen mit Augenaufschlag und Handkante

Ein Frauenkollektiv mischt das Actionkino auf, Weihnachten mit Tumor im Kopf in "Hope“ und Rasputin knurrt in "The King's Man: The Beginning“

„Code 355“ ist die Bezeichnung für einen weiblichen Spion ohne Namen. Im Gegensatz zu James Bond, Ethan Hunt oder Jason Bourne bleibt die Frau hinter Code 355 namenlos. Wie übrigens auch ihre Namensgeberin „Agent 355“, die während der amerikanischen Revolution als George Washingtons erste Spionin auftrat.

Bis heute ist ihre Identität unbekannt.

Die umtriebige Schauspielerin und Produzentin Jessica Chastain stieß auf diese Infos, als sie für ihre Rolle als CIA-Agentin in Bigelows „Zero Dark Thirty“ recherchierte. Prompt ließ sie sich davon für die Produktion ihres weiblichen Ensemble-Blockbusters, dem erfrischend spritzigen Spionagethriller „The 355“ inspirieren.

„James Bond bleibt am Ende immer allein“, heißt es da einmal, was den internationalen Agentinnen nicht passieren kann.

Als Vertreterinnen rivalisierender Geheimdienste stehen sie sich vorerst feindlich gegenüber. Doch die Dringlichkeit ihrer Mission schmiedet sie zusammen: Es geht darum, eine tödliche Computertechnologie aus den falschen Händen zurückzuholen, um – wie immer in solchen Fällen – die Vernichtung der Menschheit zu verhindern.

Harem

Jessica Chastain kämpft für die CIA, Diane Kruger für den deutschen Nachrichtendienst, Computerspezialistin Lupita Nyong'o arbeitet für die Briten und die lustige Penélope Cruz spielt eine friedfertige Therapeutin und Mutter, die rein zufällig und gegen ihren Willen in der Spionageabwehr landet.

Gemeinsam bilden sie ein äußerst schlagfertiges, effektvoll agierendes Team, das vom verführerischen Augenaufschlag bis hin zur nasenbrechenden Handkante alle Register zieht.

Schlagfertiges Team: Diane Kruger, Jessica Chastain und Lupita Nyong'o in "The 355"

©Panda Film

Der Reiz von polierten Agententhrillern wie der „Bond“-Reihe oder dem „Bourne“-Franchise liegt unter anderem darin, dass man im Zuge einer tödlichen Mission auf Weltreise geht, urlaubsschöne Schauplätze besucht und mit omnipräsentem Blick dabei zusehen kann, wie ein Markt in Marokko aufgemischt wird, teure Hoteleinrichtungen zu Bruch gehen und schöne Menschen in eleganter Abendrobe asiatische Kampftechniken praktizieren.

All diese genre-spezifischen Herrlichkeiten bietet „The 355“ in höchst unterhaltsamem Ausmaß.

Penélope Cruz, Jessica Chastain, Lupita Nyong'o und Diane Kruger sind elegant, aber wehrhaft: "The 355"

©Panda Film

Die vier (später fünf) Hauptdarstellerinnen sind attraktiv, aber nie oversexed, und agieren in cooler Übereinkunft, ohne ihre Female-Bonding-Message über Gebühr zu strapazieren. In temperamentvoller Abfolge wechseln actionschwere Verfolgungsjagden und zügig choreografierte Kampfsequenzen mit nett geplauderten Kennenlernrunden.

Diane Kruger übernimmt klischeebewusst die Rolle der emotionskühlen Deutschen und kürzt bei einem Verhör das Gespräch flott mit einem Schuss in den Oberschenkel ab („Genug geredet!“). Lupita Nyong'o schlüpft in die Deckung einer braven Muslimin und überrascht ihre Gegner mit Kenntnis im Nahkampf.

Der oberste Drahtzieher des Bösen, ein arroganter Brite, kann gar nicht glauben, dass er sich mit einem „Harem von Frauen im Kopftuch“ herumschlagen muss. Gut möglich aber, dass mit Team 355 in einer Franchise-Fortsetzung zu rechnen ist.

INFO: USA/CHN 2022. 124 Min. Von Simon Kinberg. Mit Jessica Chastain, Diane Kruger.

Verfolgungsjagd in Paris: Diane Kruger in "The 355"

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Filmkritik zu "Hope": Weihnachten mit Hirnturmor

Wer will sich schon zu Jahresbeginn ein Drama über eine  Frau mit Gehirntumor ansehen? Noch dazu in Zeiten von Corona?

Spontan wahrscheinlich niemand. Warum sich der Sprung ins Gefühlsbad von Regisseurin Maria Sødahls „Hope“ trotzdem so sehr lohnt, liegt an der Bandbreite an Emotionen, die der norwegische Oscarbeitrag ganz selbstverständlich zum Klingen bringt. Maria Sødahl, übrigens verheiratet mit Regisseur Hans Petter Moland, wurde tatsächlich mit einer Krebsdiagnose konfrontiert und verdichtet ihre dramatischen Erfahrungen zu  einem fein ziselierten Familien- und Beziehungsporträt.

Nein, schreit die überforderte Patchwork-Mutter einmal an unpassender Stelle: Wenn sie   ehrlich ist, dann liebt sie ihre eigenen drei Kinder mehr als jene, die ihr Partner aus erster Ehe mit in die Beziehung gebracht hat. An solchen Einsichten muss man nicht zugrunde gehen, man kann an ihnen wachsen. 
Es ist kurz vor Weihnachten. Die Großfamilie tritt zusammen, um gemeinsam zu feiern. Anja Richter (Andrea Bræin Hovig), eine erfolgreiche Choreografin, hat gerade erfahren,  dass sie einen Tumor im Gehirn hat, wahrscheinlich eine Metastase ihres erst kürzlich behandelten Lungenkrebses. Sie  will den Weihnachtsfrieden nicht stören und versucht, ihre Ängste zu überspielen. Ihre Mann Tomas (Stellan Skarsgård) strampelt hilflos an ihrer Seite. Die Schieflage ihrer in die Jahre gekommenen Langzeitbeziehung ist unübersehbar.

Tiefe Krise: Andrea Bræin Hovig und Stellan Skarsgård in „Hope“ 

©Panda Film

Schlaflos

Mit nüchternem Blick lotet Sødahl die schmerzhafte Dynamik eines Paares in der Krise aus,  das sich zwischen Nähe und Distanz aufzureiben droht und um Boden ringt. Die warm leuchtende Altbauwohnung der Familie, vollgefüllt mit Kindern und Verwandten, bietet Zuflucht und Schutz, aber auch  einsame Kälte in schlaflosen Nächten. Erst langsam finden die beiden zu einer gemeinsamen Vorgangsweise unter extremen Umständen. Jenseits von Gefühlskitsch und falscher Rührseligkeit treten dabei Momente der Wahrhaftigkeit zutage, die weit über einen persönlichen  Krankheitsfall hinweg strahlen.

INFO: NOR/SWE 2019. 130 Min. Von Maria Sødahl. Mit Andrea Bræin Hovig, Stellan Skarsgård.

Getrübte Weihnachtsfeier: "Hope"

©Panda Film

Filmkritik zu The King’s Man  – The Beginning": Rasputin knurrt wie ein Tiger

Es begann 2014 mit einem Überraschungshit, als sich Matthew Vaughn mit seiner überdreht-brutalen  Comicverfilmung  „Kingsman: The Secret Service“ einen Namen machte. Nach der mauen Fortsetzung „Kingsman 2: The Golden Circle“ hat sich Vaughn nun ein weitgehend misslungenes Prequel geleistet, das erklären soll, wie es zur Gründung der Kingsman-Organisation kam.

Die Vorgeschichte reicht bis  1902 zurück,  wo der britscher Herzog Orlando Oxford (auf verlorenem Posten: Ralph Fiennes) die Ermordung seiner Ehefrau mit ansehen muss. Ab dann lautet sein erklärtes Lebensziel: Den einzigen Sohn Conrad von Gefahren fernzuhalten.
Gar nicht so einfach in einer Zeit, in der der österreichische Thronfolger erschossen wird, der Erste Weltkrieg beginnt und die russische Revolution ausbricht.

Völlig entfesselt: Rhys Ifans als Rasputin in "The King's Man – The Beginning"

©Photo by Peter Mountain/Disney

Vaughn lässt die blutigen Stationen der Weltgeschichte in krasser Comic-Farce aufleben, um plötzlich  im bierernsten Weltkriegsdrama à la „1917“ zu versinken. Sein Erzählton schwankt zwischen zynisch-brutal und betroffen, wodurch sich Drama und „Humor“ wechselseitig im Weg stehen. Valerie Pachner geistert als Mata Hari durch die Geschichte, Daniel Brühl als Nazi-Hellseher. Die bizarrste Rolle aber hat Rhys Ifans, der als entfesselter Sexmaniac Rasputin knurrt wie ein Tiger, tanzt   wie Nurejew und Ralph Fiennes das verwundete Bein leckt.  

INFO: GB/USA 2021. 131 Min. Von Matthew Vaughn. Mit Ralph Fiennes, Rhys Ifans.

Ralph Fiennes (re.) als besorgter Vater: "The King's Man – The Beginning"

©Photo Credit: Courtesy of 20th C/Disney
Alexandra Seibel

Über Alexandra Seibel

Alexandra Seibel schreibt über Film, wenn sie nicht gerade im Kino sitzt.

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