Das Ensemble trainierte im Lockdown Eislaufen – und macht es „nun richtig toll auf dieser kleinen Fläche“, so die Regisseurin

"Anna Karenina" in der Josefstadt: "Die Bühne ist eine Eislauffläche"

Amélie Niermeyer über ihre Dramatisierung von Leo Tolstois Roman, mit der am 1. September die Saison eröffnet wird

Im Dezember 2019 hatte „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow im Josefstädter Theater Premiere – in einer hochgelobten Inszenierung von Amélie Niermeyer. Mit dieser Produktion nahm Otto Schenk Abschied von der Bühne: als steinalter Diener Firs, der schließlich im Herrenhaus (als Sinnbild der alten Ordnung) vergessen und beim Abriss unter den Trümmern begraben wird.

 

Will Lust auf das Lesen des Romans machen: Amélie Niermeyer 

©Kurier/Gilbert Novy

Danach hätte die Regisseurin, 1965 in Bonn geboren, „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi umsetzen sollen. „Ich wollte den Roman schon lange einmal machen“, sagt Niermeyer im Gespräch mit dem KURIER. „Die konkrete Idee entstand vor rund dreieinhalb Jahren im Gespräch mit Direktor Herbert Föttinger.“

Amélie Niermeyer hatte von 2001 bis 2005 das Theater in Freiburg im Breisgau geleitet, ab 2006 war sie Generalintendantin am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Übermächtiger Betrieb

Bereits drei Jahre später gab sie bekannt, ihren 2011 auslaufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen. „Ich dachte, dass Intendanz plus Regie gut zu schaffen sei. Aber ich musste feststellen, dass meine eigenen Inszenierungen darunter leiden, wenn man sich wirklich um die Belange eines Hauses kümmern will. Der Betrieb wird übermächtig – jedenfalls in einem großen Haus wie in Düsseldorf“, sagt sie. „Ich hatte daher das Bedürfnis, mich wieder mehr auf die Kunst zu konzentrieren. Vielleicht war Düsseldorf auch der falsche Ort für mich. Und dann kam die Leitung des Thomas-Bernhard-Instituts am Mozarteum in Salzburg. Diese Lehrtätigkeit lässt sich viel besser mit dem Regieführen kombinieren. Wenn ich noch einmal ein Haus leiten würde, dann als Team.“

Sie inszenierte zum Beispiel Opern im Theater an der Wien. Und nun wird die Josefstadt eine neue Heimat: „Es gibt bereits zwei neue Projekte.“ Sie lassen sich hoffentlich problemloser realisieren als „Anna Karenina“. Denn 2020 brach die Pandemie aus: „Da flog natürlich die Inszenierung weg. Aber das war günstig für das Projekt. Denn ich wollte an der Spielfassung mitarbeiten – und hatte nun Zeit.“

Wochenlanges Lesen

Die Regisseurin las nicht nur verschiedene Übersetzungen des 1.000-Seiten-Romans („Da sitzt man wochenlang dran!“), sondern auch die verschiedenen Theaterfassungen: „Es gab keine, die meinen Vorstellungen ganz entsprach oder in der die Themen, die mich interessieren, tiefer ausgelotet werden.“

Als Basis diente ihr schließlich die Fassung von Armin Petras, die vor zehn Jahren, 2012, im Wiener Volkstheater zur österreichischen Erstaufführung gekommen war: „Was Petras sehr gut gemacht hat, sind die Übergänge von epischer Sprache in die direkte Rede.“ Also: Die Figuren beschreiben sich selber, formulieren ihre Gedanken (etwa über unförmige Ohrknorpel) und springen dann in den Dialog.

 

Von dieser Fassung übernahm Niermeyer etwa die Hälfte – und setzte eigene Akzente. „Vielfach, auch in den Verfilmungen, wird der Roman auf die Liebesgeschichte – Anna Karenina zwischen zwei Männern – fokussiert. Mir war aber wichtig, dass auch andere Aspekte vorkommen. Etwa, dass Ljewin nach dem Sinn unseres Daseins sucht.“ Denn: „Das ist sehr heutig, gerade in der Zeit der Pandemie. Viele von uns am Theater mussten feststellen, dass Kunst und Kultur doch nicht den Wert haben, den wir dachten, dass sie ihn hätten oder haben sollten. Und auch jetzt fragen sich viele: Warum machen wir überhaupt Theater? Was wollen wir erzählen? Wie gewinnt man das Publikum zurück? Daher ist Ljewin, das Alter Ego von Tolstoi, eine sehr wichtige Figur.“

Dass aber nur die Männer – abgesehen von Anna Karenina – die tiefschürfenden Gedanken äußern, wollte Amélie Niermeyer nicht: Im Gespräch über den Sinn des Lebens überantwortete sie Kitty Passagen von Lewin.

Aktueller Diskurs

Und sie verortet das Stück im Heute: „Der Gesellschaftsdiskurs – warum die Reichen immer reicher werden, die Armen aber immer arm bleiben – ist ja nach wie vor aktuell. Da brauchten wir gar nichts aktualisieren.“ Die Gegenwart wird jedoch nicht überbetont: „Die Übersetzung von Rosemarie Tietze aus 2009, die ich verwendet habe, ist deutlich Tolstoi! Ein schnoddriger Ton würde ihm nicht gerecht werden.“

„Anna Karenina“ hätte eigentlich am 30. September 2021 herauskommen sollen – mit Silvia Meisterle in der Titelrolle. Die Proben begannen, dann wurde ein Darsteller krank, eine neue Coronawelle baute sich auf: „Und dann kam die Absage – zehn Tage vor der Premiere.“

 

Tragische Geschichte: Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann 

©Moritz Schell

Aber jetzt, am 1. September, soll es tatsächlich so weit sein: „Die Bühne ist eine Eislauffläche“, erzählt Niermeyer. „Während der Unterbrechung nutzten die Schauspielerinnen und Schauspieler die Zeit, um Eislaufen zu trainieren. Das machen sie nun richtig toll auf dieser kleinen Fläche.“ Das Ensemble – darunter Alma Hasun, Alexander Absenger und Claudius von Stolzmann – ist praktisch das gleiche geblieben.

Ohne Augenzwinkern

Aber nun kam der Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine hinzu. Darüber hinwegsehen kann man nicht, sagt Niermeyer: „Es gab ein paar mit Musik untermalte Szenen, in denen die russische Kultur mit viel Lust und Ironie behandelt wurde. Da haben wir Kleinigkeiten verändert. Ich fände es zwar ganz falsch, wenn man jetzt keine Werke russischer Komponisten oder Literaten mehr spielte, aber dieses Augenzwinkern ist nicht mehr möglich.“ Nachsatz: „Die Leichtigkeit haben wir trotzdem beibehalten!“

Und Niermeyer beruhigt: „Die Zuschauer werden, auch wenn sie den Roman nicht gelesen haben, Anna Kareninas Handlungsweise nachvollziehen können. Ich würde mir aber wünschen, dass sie danach Lust haben, den unglaublich tollen Roman zu lesen. Weil einem eben die Figuren so nahe gehen.“

Über ihre nächsten Josefstadt-Projekte darf sie noch nichts preisgeben. In diesem Herbst aber geht es bei ihr Schlag auf Schlag. Am 15. Oktober hat „Guillaume Tell“ von Gioachino Rossini unter ihrer Regie am Stadttheater Bern Premiere: „Das wird ein sehr politischer Abend.“ Und exakt eine Woche später, am 22. Oktober, folgt am Schauspiel Stuttgart „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab: „Ich habe eine Faszination für großartige Frauenrollen.“

Thomas Trenkler

Über Thomas Trenkler

Geboren 1960 in Salzburg. Von 1985 bis 1990 Mitarbeiter (ab 1988 Pressereferent) des Festivals „steirischer herbst“ in Graz. Seit 1990 freier Mitarbeiter, von 1993 bis 2014 Kulturredakteur bei der Tageszeitung „Der Standard“ in Wien (Schwerpunkt Kulturpolitik und NS-Kunstraub). Ab Februar 2015 Kulturredakteur beim “Kurier” Kunstpreis 2012 der Bank Austria in der Kategorie Kulturjournalismus für die Recherchen über die NS-Raubkunst seit 1998 und die kontinuierliche Berichterstattung über die Restitutionsproblematik (Verleihung im Februar 2013).

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