Ai Weiwei: Westlicher Hypermoralismus erinnert an die Kulturrevolution
Der chinesische Dissident präsentiert Arbeiten in Glas in Venedig. Ein Gespräch über Cancel Culture und ein Selfie mit Alice Weidel.
Ai Weiwei macht in Glas: Gemeinsam mit der venezianischen Manufaktur Berengo Studios hat er unter anderem einen mattschwarzen Luster geschaffen, der in der Kirche San Giorgio am Canal Grande hängt. Ein zweieinhalb Tonnen schweres Stück aus sandgestrahlten Glasknochen und Totenschädeln. Anlässlich der Ausstellungseröffnung traf der KURIER den kontroversiellen Künstler zum Gespräch.
Ai Weiwei: Niemand ist unschuldig. Alle großen Firmen sind in China zu Hause. Es würde Unsummen und Jahre kosten, eine andere Produktionsstätte zu finden. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Globalisierung nahezu unzerstörbare Beziehungen zwischen China und dem Westen geschaffen. Die Deutschen haben es kürzlich sehr klargemacht: Ohne Russland gibt es kein Gas, ohne China keinen Markt. Ohne das alles kein Deutschland. Es ist wirklich sehr simpel.
Lacht. Ich finde es schwierig, hier eine Balance auszumachen. Ich unterstütze die Rechte des Individuums. Gleichzeitig muss ich sagen: Wir haben heutzutage 100 Millionen Flüchtlinge. Es gibt dramatischen Wandel in der Umwelt. Man sieht sehr deutlich, dass es Probleme mit Essen, Treibstoffen und der Versorgung geben wird.
Es ist fragwürdig, selbst im Komfort zu leben, aber zu ignorieren, dass die Welt ein sehr gefährlicher Ort ist. Es gibt sehr viel Ungerechtigkeit und sehr viele Menschen haben Schwierigkeiten, überhaupt zu überleben.
Wir können Freiheit jedenfalls nicht als selbstverständlich ansehen. Man muss zu Grundlegendem zurückkehren, etwa zu echter Redefreiheit. Zu echten individuellen Urteilen. Das ist sehr schwer, wenn man mit der gleichen Bildung und demselben Denken aufwächst.
Individualität bedeutet, einen Charakter zu finden und sich damit selbst zu definieren. Wenn ich die jungen Leute heute sehe: Es gibt weder Kritik, Selbstkritik oder den Willen, sich anzustrengen. Und da rede ich noch nicht einmal davon, ein Opfer zu bringen.
Es ist wie mit der Religion: Wie viele wunderschöne Kirchen gibt es in westlichen Städten, die den Wert von Religion demonstrieren? Man baute die schönsten Gebäude. Heute sind sie leer.
Absolut nicht. Auch der westliche Freiheitsbegriff hat sich seit der Renaissance, der Aufklärung, der industriellen Revolution weiterentwickelt. Und der Fortschritt geht weiter. Im 19. Jahrhundert hat man in Europa Menschen aus Afrika in einen Zoo gesteckt. Können Sie sich so was vorstellen? Frauen hatten im 20. Jahrhundert noch nicht das Recht, zu wählen. All das hat eine Gesellschaft geschaffen, die über viel Toleranz verfügt, aber die wird herausgefordert. Und es kann sich alles sehr schnell zurückbewegen.
Ich kritisiere immer wieder die Heuchelei. Man kann keine echte Konfrontation mehr haben, in der man mit rationalen Argumenten streitet. Stattdessen muss man an eine moralische Haltung irgendeiner Elite denken. Das halte ich für gefährlich für die westliche Gesellschaft. Es unterscheidet sich nicht von der Kulturrevolution Chinas: Wenn Sie eine Ideologie einfordern und die anderen auslöschen, wird die Gesellschaft faschistisch.
Wir müssen die Menschlichkeit respektieren: Man ist mit dem Recht geboren, anders zu sein. Es mag sein, dass ich nicht mag, was Sie sagen, aber ich muss Ihr Recht schützen, es sagen zu können.
Wir müssten uns eingestehen, dass auch die Menschen nur eine Art Tier sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass etwas außerhalb unserer Kontrolle ist. Bis es dann so weit ist: Eine Pandemie, ein Krieg in Europa ... Kunst, Literatur und Philosophie haben die Aufgabe, zu hinterfragen, warum wir hier sind. Was ist es wert, zu bewahren? Wir sind intelligente Wesen und müssen uns solche Fragen stellen.
Ich habe in unserem autoritären Staat gelernt, dass man versucht hat, unsere Erinnerungen auszulöschen. „Nur indem wir alles zerstören, können wir eine neue Welt bauen.“ Mit einer traditionellen Methode zu arbeiten, bedeutet, sie zu verstehen und zu respektieren. Glas wird seit Hunderten von Jahren produziert. Für jede Revolution braucht man ein Vokabular, das eine gemeinsame Sprache formt. Heute haben wir im Westen „Cancel Culture“ und versuchen, die Vergangenheit zu ändern.
Ich bin kein Gelehrter, aber meine Definition lautet so: Urteile zu fällen, die ausschließlich auf den heutigen Werten basieren, ohne sich dafür zu interessieren, was in der Vergangenheit passiert ist – und warum. So filtern wir unterschiedliche Ideen weg.
Ich bin sehr stur und will meinen chinesischen Pass nicht aufgeben. Es gibt mir außerdem die Legitimation, China zu kritisieren.
Das ist wahr. Das verleiht mir eigentlich eine interessante Position.
Ich sehe es als eine Art Tagebuch. Und ich mache tatsächlich mit jeder Person Selfies. Manchmal schafft das Probleme. In Deutschland hat mich einmal eine Politikerin (AfD-Vorsitzende Alice Weidel, Anm.) um ein Selfie gefragt. Ich hatte keine Idee, was für eine Partei das ist. Als sie das Bild postete, gab es große Kritik an mir, weil sie fremdenfeindliche Politik macht. Meine Antwort war: „Come on: Ich mache doch mit jedem Selfies.“ Auch mit Leuten, deren politische Haltung ich nicht teile.
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