50 Jahre Interrail: Hitze, Callboys und eine Nackttänzerin

Das Interrail-Ticket war für Generationen von Teenagern ein Tor zur Welt. Bei der Rückkehr hatten sie viele Anekdoten dabei. Redakteure erzählen ein paar davon.

Als vor 50 Jahren ein unscheinbares Stück Papier auf dem Reisemarkt auftauchte, ahnte vermutlich niemand, dass es Europas Jugend nachhaltig verändern sollte. Das sogenannte Interrail-Ticket wurde eingeführt - und damit die Möglichkeit für Menschen bis 21, einen ganzen Monat für wenig Geld kreuz und quer durch Europa zu reisen. Ihrem Freiheitsdrang auf den Schienen folgend, verbrachten seither Generationen von Teenagern ihre Sommerferien in Zugabteilen und Bahnhofshallen. Anfangs ohne Handy, ohne Internet und ohne reservierte Sitzplätze.

Heute geht das alles nicht mehr ganz so leicht, aber Interrail ist nach einer Phase des Abflauens wieder sehr beliebt. Kein Wunder, bringt das doch auch ein paar einschneidende Erlebnisse mit sich. Eine Redakteurin und drei Redakteure erinnern sich.

Nach "Hitzeschlag" mit 1. Klasse

Es war der Sommer, in dem Österreichs „Sonnenkanzler“ Bruno Kreisky von dieser Welt abtrat. Lange her. Wir waren blutjung. Auch in diesem Juli war uns unterwegs das Geld ausgegangen. Mit den letzten griechischen Drachmen quetschten wir uns auf dem Bahnhof von Athen in den Zug nach Wien. 1000 andere mit uns. Bis Saloniki lagerten wir auf dem Korridor des komplett überfüllten Waggons; ab Saloniki thronten wir aber in der ersten Klasse.

Irgendwer hatte die tollkühne Idee, dem Schaffner einen Hitzeschlag vorzuspielen. Sein „Leiden“ ließ uns zumindest bis Belgrad bequemer reisen. Graz nach mehr als fünfzig Stunden im Hitzezug! Und dann verschliefen wir das Umsteigen. Damals gab es aber noch Eisenbahner, die einem allen Ernstes rieten, aus dem fahrenden Zug zu springen. Unvergessen! (Uwe Mauch)

Nizzas Strand und Mario from Italy

Nice is nice. Der Eindruck eines netten Städtchens wollte sich zuerst gar nicht einstellen. Noch Interrail-mäßig etwas unerfahren wurde gegen Mitternacht Nizzas Strand angesteuert. Da würde sich doch ein ruhiger Platz finden lassen. Was für eine grandiose Idee. Es war nicht mehr allzu viel los. Aber jene, die unterwegs waren, suchten offenbar das Amusement. Zumindest boten es Sex-Arbeiterinnen nahe der Promenade des Anglais an. Und ein älterer Herr suchte es ebenfalls. Wo denn hier die Burschen sind, wollte er wissen. Hätte er etwas später gefragt, er hätte Auskunft bekommen. 

Die Promenade des Anglais in Nizza verwandelte sich in der Nacht zu einem verruchten Ort.

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Zwar zeigten Schilder an, dass das Verweilen am Strand des Nachts verboten war, aber was heißt das schon, wenn man jung ist. Und ganz schön müde.  Ein schöner Platz auf einer Betonplattform war gefunden, die Isomatte ausgerollt. Im Schlafsack wurde es zwar nicht gemütlich, aber was half es. Nach rund zehn Minuten Ruhe näherte sich ein junger Mann. "Hello, I am Mario from Italy", sagte er. Und er nahm ungefragt Platz. "Where are your from?" Nachdem das geklärt war, rückte er ein Stück näher. Und fing, an den Oberschenkel zu streicheln. Nicht den seinen. "Nice is nice", säuselte der Gute. Das sich der junge Mann an den jungen Mann bringen wollte, war klar. Nur zeigen wollte man ihm das nicht. Aber nachdem Mario from Italy Süßholz geraspelt hatte, wurde es ihm zu bunt. Er schuf Tatsachen: "Fuck?", fragte er. Nein, danach stand das Bedürfnis nicht. Eher nach Schlaf. Doch Mario from Italy gab sich nicht geschlagen. "I can organize girls for you!" Nein auch das nicht. Mario zog von dannen.

Aber auch der Platz schien nicht mehr fürs Ruhen geeignet. Es ging an der Amusement-Meile vorbei zurück vor den Bahnhof. Da hatten es sich ein paar erfolglose Interrailer vor den Toren bequem gemacht. Auch war immer wieder wer auf der Suche nach Zerstreuung. Die Nacht war lang und mühsam. Aber sie war der Auftakt für eine spannende Reise. (Daniel Voglhuber)

War ich in Amsterdam?

Ich sage es gleich: Ich bin ein Wiederholungstäter. Eine Interrailreise von Linz nach England und dann nach Schottland sowie Irland 1977 war mir nicht genug. Ich wollte mehr von tage- und nächtelangen Zugfahrten, von rumpelnden Gleisen und überhitzen Waggons, vom Fahrtwind (ja, damals ließen sich Zugfenster noch öffnen), von fremden Sprachen, vom Duft der weiten Welt. Im Jahr darauf ging's zuerst nach Paris, dann ins Baskenland, nach Portugal und wieder nach England und Schottland. Ich gebe es zu: Ich war auch Bay City Rollers-Fan.

Ein Monat aus dem Rucksack leben, in Jugendherbergen nächtigen, in Zelten, auf Wiesen, unter Büschen, auf einer von der Irischen See umtosten Turmruine, am Strand. Mit einem Wort: Mehr Abenteuer war kaum vorstellbar. Okay, die Bierdose, die mich beim Hawkwind-Konzert in Reading - bereits ohne Motörhead-Gründer Lemmy Kilmister, dafür noch mit Nackttänzerin Stacia - am Kopf traf, war auch nicht ohne.

Erst letztes Jahr sagte Jugendfreund Christian bei einem Wienbesuch plötzlich: "Super war das damals bei Lou Reed in Amsterdam." Ich: "Das denke ich mir. Aber leider ohne mich. Ich war nie mit der Eisenbahn in den Niederlanden. Wir haben uns doch Interrailmäßig in Glasgow getroffen?"

Unser Redakteur war mit Interrail nicht in Amsterdam. Dabei ist es so schön dort.

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Noch heute ist Christian nicht restlos von meiner Abwesenheit in Amsterdam  überzeugt. Ich aber weiß: Interrailreisen war das beste Survival-Training für Teenies. Auch rückblickend erstaunt es mich nach wie vor. Unsere zwischendurch aufgelöste Reisegruppe konnte sich auch Tage später auf die Stunde genau an noch unbekannten Orten treffen. Ohne Handy, ohne Internet und ohne Kreditkarten.

Von Interrail-Reisenden der Selfie-Generation erfuhr ich, dass ihr Budget schon an der ersten Station zur Neige ging. Kein Wunder, wenn man als Rucksack-Tourist ausgerechnet die Schweiz bereisen möchte. (Bernhard Praschl)

Ein Regen aus Pommes

Bei jeder Interrail-Reise kommt der Punkt, an dem Zeitgefühl und Ekelfaktor entlang der Zugschienen endgültig verloren gegangen zu scheinen. Der Zug nach Lissabon steht schon am Bahnsteig bereit, nach der Partynacht in Barcelona überwiegt frühmorgens die Lust auf das Katerfrühstück. Was der Gusto brachte: Einen Sprint über den Bahnhof und ein Regen aus Pommes, Tomatenscheiben und Salatblättern mitten in der Estación de Sants.
 
In letzter Sekunde das geplatzte Sackerl durch den Sicherheitscheck gejagt und auf den Sitzplätzen das Frühstück genüsslich ausgepackt. Genug Zeit zum Einsammeln gab es immerhin noch – das Budget war im Sommer nach der Matura auch wirklich knapp. (Elisabeth Kröpfl)

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