7 Millionen Schritte: Zu Fuß von der kanadischen bis zur mexikanischen Grenze
Einmal durch die USA – über die Rocky Mountains. Zu Fuß! Der Niederländer Tim Voors hat diesen Gewaltmarsch absolviert und rät: „Macht es einfach! Und schickt mir eine Postkarte!“
Von Nicola Afchar-Negad
Brutal. Schmerzhaft. Glückselige Leere. Mit diesen drei Begriffen beschreibt der Abenteurer Tim Voors den „Continental Divide Trail“ (CDT), einen knapp fünftausend Kilometer langen Weitwanderweg von Grenze zu Grenze. Von den nördlichen Spitzen der Rocky Mountains in Kanada in die Wüste von New Mexiko – oder umgekehrt. Die einen starten im Norden, die anderen im Süden, je nach Jahreszeit. Viele trauen sich Teilstrecken zu, aber nur wenige den „Thru Hike“, also die Durchwanderung, alles oder nichts. Die „Thru Hiker“ sind eine Community aus Romantikern, zumindest in Bezug auf sich selbst ist der 51-jährige davon überzeugt: „Du musst einfach ein hoffnungsloser Romantiker sein, um von einer Grenze zur anderen zu gehen. Ansonsten wäre es nur ein sehr langer und schmerzhafter Spaziergang.“
Von Bären und Wölfen und Ängsten
Tim Voors (Trailname „Van Go“) Geschichte auf dem „Continental Divide Trail“ startet im Juni 2022 – mit einer Fußverletzung. Er kann die Strecke nicht wie geplant beginnen, bleibt stattdessen zurück in der Unterkunft und sieht einen Fernwanderer nach dem anderen zurückkehren. Schneesturm! Bären! Wolfsrudel! All das wartet da draußen auf ihn – und es ist nur der Anfang. Ein paar Tage später als geplant kann er los – mit im Gepäck des Creative Directors: Aquarellfarben und Bärenspray. Den braucht man auch, hier im Grizzly-Territorium. Voors „Zahlen, Daten-Fakten“ am Anfang seines gerade erschienenen Buchs „The Great Divide“ verraten: Er ist tatsächlich einem Grizzly begegnet. Und drei Schwarzbären. Und zwölf Wölfen.
Wie das denn so ist mit den Ängsten, will die freizeit von Voors wissen. Auch wie sie sich verändern mit der Erfahrung, denn der „Continental Divide Trail“ ist nicht sein erster Streich. „Jeder hat seine ganz eigenen Ängste und das ist auch okay so“, meint der Amsterdamer. „Für mich ist es am wichtigsten mit anderen zusammen zu sein, wenn man sich ihnen stellen muss.“ Für die einen sind das Bären, für die anderen reißende Flüsse, die man durchquert. Voors hadert mit Blitzen – „vor allem allein in der Wildnis“. So viel sei gleich verraten: Auch ein Blitz kommt in „The Great Divide“ vor.
„Die ersten hundert Kilometer sind die härtesten. Acht Tage lang durch die Bob Marschall Wildnis zu gehen – ohne Telefonnetz – war das reine Erlebnis schlechthin. Reiner Schmerz beim Klettern über umgefallene Bäume, Meile für Meile. Reine Angst, weil ich zum ersten Mal im Grizzly-Land war und das reine Hochgefühl hatte, weil Montana so unfassbar schön ist.“ Voors wird insgesamt viereinhalb Monate unterwegs sein, zwanzig Tage davon pausieren und seinen 50. Geburtstag mit seiner ersten „50 Meilen Challenge“ verbringen – er wird in 24 Stunden sogar 58 Meilen schaffen.
Großmutter war am Matterhorn
„Van Go“ wird unterwegs krank, richtig krank. Es geht ihm wochenlang so schlecht, dass er sich als „Walking Dead“ bezeichnet. Er verbraucht fünf Paar Schuhe, trinkt hundert Biere, bestaunt Geysire im Yellowstone Park („Hineinzuschauen war, als würde man Mutter Natur direkt in die Augen blicken“), verliert sein Herz an die „endlosen roten Ebenen in New Mexiko“ und denkt nie ernsthaft ans Aufgeben. „Auch wenn es hart war, habe ich jeden Tag da draußen geliebt“, sagt er und nennt es „Privileg“. Eines, das ihm auch vererbt wurde. „Meine Großmutter hat in den 1920ern das Matterhorn bestiegen und meine niederländischen Eltern haben sich auf einem Klettercamp in den Alpen kennengelernt.“
Auch Voors Frau und die drei Kinder sind ähnlich unterwegs, wenn auch etwas gemäßigter, was die Distanzen angeht. Voors hat somit natürlich eine ganz andere Ausgangslage als die meisten Wald- und Wiesen-Wanderer. Dennoch: Prinzipiell soll sein Buch nicht nur zum Träumen anregen, sondern zum Nachmachen. Was die Vorbereitungen angeht: „Das Wichtigste ist die Entscheidung, es wirklich zu tun. Vertrauen Sie mir, Sie werden sich dafür lieben!“
Was dann folge, seien viele Gespräche – mit Familie und Arbeitgeber; und zwar möglichst früh. Und der dritte Part: Geld sparen, recherchieren, Ausrüstung checken und sich körperlich vorbereiten. Wobei: „Der größte Part des Trainings passiert unterwegs. Es wäre schwierig, zu Hause jeden Tag zehn Stunden mit fünfzehn Kilo auf dem Rücken herumzulaufen.“ Und zur Packliste: „Man braucht keine Wechselkleidung, kein Handtuch, keine Seife, kein Deo. Aber definitiv jegliche Ausrüstung, um dich vor jeglicher Witterung zu schützen.“ Und ein Hawaii-Hemd – das hat sich bei ihm auch reingeschmuggelt.
Die Krönung
Und jetzt? Voors hat in seinen 40ern den Pacific Crest Trail (4.265 Kilometer) gemeistert. Seinen fünfzigsten Geburtstag verbrachte er auf dem Continental Divide Trail. Ihm fehlt nur noch einer der drei großen amerikanischen Fernwanderwege, um die sogenannten „Triple Crown of Hiking“ sein Eigen nennen zu können. Das ist zwar genau genommen nur eine Plastikkrone, aber für Thru Hiker das Nonplusultra. „Ich habe den Appalachian Trail bisher nicht geplant, aber ja, ich möchte es zur Triple Crown schaffen. Man fühlt, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, man hetzt nicht von einem zum anderen. Wäre es nur so ein Bucket-Listen-Ding würde man bei der ersten größeren Herausforderung aufgeben.“
Was Voors stattdessen vor hat? „Ich begleite meinen 18-jährigen Sohn für ein paar Monate auf einer Rucksackreise durch Laos. Es ist nie zu spät für ein „Gap Year“ (deutsch: Lückenjahr), nicht mal mit 51.“
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