Ruhe bitte! Die stillsten Plätze der Welt
Am 27. April ist internationaler Tag gegen Lärm. Eine gute Gelegenheit, schon heute Ruhe zu genießen und gedanklich an die stillsten Plätze der Welt zu reisen. Der Akustikökologe Gordon Hempton ist einer, der auszieht, um sie zu finden – und zu schützen.
Wo findet der Mensch noch Ruhe? Im Wald, wo er dem Rauschen der Blätter lauschen kann und dem Zwitschern der Vögel? In der Wüste, in der nichts als das Säuseln des Windes wahrzunehmen ist? Irgendwo in der Antarktis, wo das Kalben der Gletscher zu hören ist, als mächtiges Knacken, Rauschen und Platschen? Es gibt sie noch, diese Orte besonderer Stille, doch sie werden immer rarer. Künstliche Geräusche erreichen die abgelegensten Plätze der Erde – Lärm ist für viele Menschen eine Belastung.
Umso wohltuender wirkt Stille, frei von Geräuschen ist sie aber nicht. Außer wir reisen dafür in die Orfield Laboratories, einen hermetisch abgeschlossenen Bereich im US-Bundesstaat Minnesota. Dort befindet sich laut Guinnessbuch der Rekorde der stillste Raum der Welt. Knapp 100 Prozent aller Geräusche werden hier absorbiert, was für Menschen kaum zu verarbeiten ist, weil man sich nur mehr selbst wahrnimmt. Den eigenen Atem und Herzschlag, zum Beispiel. Das führt auf Dauer zu einem tiefen Gefühl von Einsamkeit und Isolation, fast niemand hält das länger als 45 Minuten aus.
Dauerbeschallung
So sehr der Mensch die Stille braucht, so ungewohnt und bedrohlich wird sie mitunter erlebt. Wir haben uns längst an eine Nonstop-Dauerbeschallung gewöhnt – hören freiwillig Musik, während wir lesen und arbeiten, sitzen im Auto und hören Podcasts.
Was genau ist wohltuende Stille? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Akustikökologe Gordon Hempton seit Jahrzehnten (siehe Interview, Seite 20). Der Forscher besucht Orte rund um den Globus, um ihnen zuzuhören und ihre Geräuschkulisse mit dem Mikro einzufangen. Stille bedeutet für ihn keinesfalls die völlige Abwesenheit von Lauten, sondern der unverfälschte Klang der Natur ohne menschengemachten Lärm. Solche Orte sind – wie eingangs erwähnt – selten und nur mehr in wenigen Gegenden der Welt zu finden. Hempton kennt sie alle. Er weiß daher auch, was sie gefährdet. Die akustische Verschmutzung unserer modernen Welt, verursacht vor allem durch Flug- und Verkehrslärm. Gordon Hempton, den wir via Zoom in seinem Arbeitszimmer in Seattle erreichen, beunruhigt das. „Ich sorge mich zutiefst um Stille“, erzählt er.
Für ihn ist diese Sorge zum Lebensauftrag geworden, als immerwährendes Fahnden, das ihn in den vergangenen 42 Jahren mittlerweile drei Mal rund um den Globus geführt hat. Um ebendiese raren ruhigen Flecken zu finden und deren individuellen Töne einzufangen. Er entdeckt die Welt mit den Ohren, sucht nach natürlichen Urlauten, die er „makellos“ nennt. Manche davon sind mittlerweile ausgestorben, wie eine Spezies, die nicht überleben konnte. Den Hörsinn betrachtet er als den wichtigsten menschlichen Sinn, mit großer evolutionärer Bedeutung. „Im Gegensatz zu den Augen können wir unsere Ohren nicht schließen. Der Hörsinn ist niemals ausgeschaltet, Geräusche erreichen uns rund um die Uhr. Im Sinne unseres Überlebens war das von großer Bedeutung, der Hörsinn versorgte unsere Urahnen mit grundlegenden Informationen. Natürliches Vogelgezwitscher oder das reine Geräusch von Wasser stand für Leben, für gute Orte, um sich niederzulassen.“
Geflüster von fallendem Schnee
„Die Stille ist das Lied eines Kojoten im Mondlicht, sie ist das Geflüster von fallendem Schnee. Stille ist der Klang von fliegenden Insekten“, schrieb der 69-Jährige in seinem Buch „Die Erde ist eine solarbetriebene Jukebox“. Er ist überzeugt, dass der Mensch Stille braucht. Auch unser Planet benötigt sie, weil sie intakte Natur symbolisiert. Stille Plätze sind für ihn Orte des Glücks und Friedens, an denen sich Menschen verbunden fühlen können, mit dem Leben, der Erde.
Es wird immer wichtiger, Stille zu suchen und sich auf sie bewusst einzulassen. Weil sie uns Demut lehrt, und gleichzeitig das Gehirn in einen Ruhezustand versetzt. Hempton ist nicht nur Forscher, sondern auch Philosoph, der über die Stille Faszinierendes und Tiefgreifendes zu erzählen weiß. Zum Beispiel, dass es Momente gibt, in denen er selbst tief in die eigene Stille eintauchen und auf diese zurückgreifen muss, um belastende Lebensereignisse zu verarbeiten. Dann hört er in sich hinein, um sich nachzuspüren und Lösungen zu finden. Das ist etwas, das nur in Ruhe gelingt.
Hör-UniversumAuf Hemptons Homepage (soundtracker.com) kann jeder seinem Hör-Universum lauschen – vom Donnern ozeanischer Wellen über die Klangatmosphäre des Regenwalds bis hin zu Geräuschen einer Dämmerung in der Prärie. Sein liebstes „Klang-Revier“ ist der Hoh-Regenwald im Olympic Nationalpark, im Westen des Bundesstaates Washington. Einer der stillsten Orte der USA, an dem er sich der Welt ganz nah und dabei lebendig fühlt. Im Jahr 2005 rief er dort eine Schutzzone der Ruhe aus, den „Quadratzoll der Stille“. Eine Stelle im Moos, von der aus im Umkreis von 30 Kilometern nur pure Natur zu hören ist – das Quaken der Frösche, das Summen der Insekten. Mittlerweile hat er weitere Orte gefunden, die er auf diese Weise zertifizieren lassen möchte. Das wird immer schwieriger, bedauert er: „Schließen Sie die Augen, und lauschen Sie für wenige Sekunden der Umgebung, in der Sie leben. Sie werden das Fehlen echter Stille wahrnehmen, stattdessen den Lärm von Eiskasten, Klimaanlagen, Flugzeugen und vielen anderen Dingen als Teil unseres Alltags hören. Diese verhindern, dass wir die natürlichen Geräusche unserer Umgebung wahrnehmen können. Doch es ist unser Geburtsrecht, still und ungestört, hören zu dürfen, was uns an Natur umgibt“, sagt Hempton. Weil der Mensch nur so eine Verbindung zu seiner evolutionären Vergangenheit aufbauen kann – und damit zu sich selbst.
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