Savoir-vivre am Mittelmeer: Kennen Sie Marseille?
Die älteste Stadt Frankreichs begeistert mit Chic, Charme, moderner Architektur – und der besten Fischsuppe der Welt.
Überblick
ca. 870.000
Hafenstadt in Südfrankreich
Euro (€)
Überbezahlte Hotels, überforderte Kellner, überlaufene Sehenswürdigkeiten: In ein paar Wochen beginnt der Sightseeing-Wahnsinn wieder. In ganz Europa erwartet man die Touristenhorden, die an einem Wochenende die Stadt erobern wollen. Mit den vertraulichen Geheimtipps der Freunde, die aber alle anderen auch kennen.
Warum nicht einmal den klassischen Städtetourismus-Zielen die kalte Schulter zeigen? Auf zu den hippen Schwestern der Metropolen. Statt Florenz Siena, statt Lissabon Porto, statt Paris Marseille – lohnende Alternativen zu den total überströmten Tourismus-Hotspots. Die kleinen Städte-Schwestern sind für ein paar entspannte Tage nicht die zweite, sondern die erste Wahl. Charmante Alternativen für Entspannung pur.
Wer sich weigert, stundenlang vor dem Louvre und dem Eiffelturm auf den Eintritt zu warten, wer genug von der Unfreundlichkeit der Pariser Taxifahrer und den unverschämten Preisen in den Bistros und Cafés hat, sollte einmal statt in den Moloch an der Seine weiter in den Süden fliegen. Oder mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV von Paris in nur drei Stunden und 11 Minuten mit 320 km/h Richtung Mittelmeer rasen.
Man kann sich Marseille auch gemächlicher nähern: auf einem 200 Kilometer langen Kunstwanderweg von der Provence bis zum Marseiller Rathaus. Die von Paris überdrüssigen Besucher werden hier – wie auch immer sie hierher finden – mit offenen Armen empfangen.
Bereits vor mehr als 100 Jahren stellte der Philosoph Arthur Schopenhauer fest: „Ich bin sicher, dass Marseille die schönste Stadt Frankreichs ist. Sie ist so anders!“ Hier in der aufregenden Hafenstadt, 800 Kilometer entfernt von Paris, kann man heute Chic, Charme und französisches savoir-vivre genießen. Und auch hier gibt es Notre-Dame: Vom bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, der Wallfahrtskapelle im neobyzantinischen Stil, genießt man einen ebenso prachtvollen Ausblick wie vom Pariser Eiffelturm – nur gibt es beim 360-Grad-Panorama den Meerblick dazu. Von überall in der Stadt ist auch der fast 150 Meter hohe Wolkenkratzer der Architektin Zaha Hadid unter azurblauem Himmel leuchtend sichtbar – die Zentrale des Schifffahrtunternehmens CMA CGM, die an ein monumentales Victory-Zeichen erinnert.
Nicht alle sehen die Entwicklung von Marseille positiv. Im vor Kurzem erschienenen Buch „Die Erschaffung des Monsters“ rechnet der „La Marseillaise“-Journalist Philippe Pujol mit seiner Heimatstadt ab. Wütend zeigt er auf, was aus seiner Sicht schiefläuft, spricht von Elend und Korruption, vom Alchemisten-Bürgermeister Jean-Claude Gaudin, 78, der „Beton in Gold verwandeln kann“. In der von Netflix produzierten Serie Marseille gibt Gérard Depardieu den bei vielen verhassten Bürgermeister als koksenden Gourmand. Der blinde Hass auf Gaudin geht so weit, dass am 14. Jänner über Twitter die Falschmeldung seines Todes verbreitet wurde.
Vor fünf Jahren wurde Marseille zur Europäischen Kulturhauptstadt gekürt. Seit damals arbeitet man hart daran, das Image der schäbigen Hafenstadt abzulegen. Die Gangsterbraut – noch vor einigen Jahren warnten Reiseführer vor extrem hoher Kriminalität – soll zu einer Grande Dame werden. Und seit am alten Hafeneingang das „Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée“ (MuCEM) – der beeindruckende Glas-Beton-Quader von Rudy Ricciotti, eines charmanten Provokateurs der Architektur – die erste Museumsgründung Frankreichs außerhalb von Paris seit Langem, eingeweiht wurde, ist auch die Kultur in der südfranzösischen Stadt angekommen. Im MuCEM präsentiert man die abwechslungsreiche Geschichte der Mittelmeerregion.
Metropole mit Charakter
Ein anderes, etwas protziges Prestigeobjekt ist die Villa Méditerranée. Das Kulturzentrum wirkt wie ein riesiges 16-Meter-Sprungbrett ins Meer. Knapp die Hälfte des Gebäudes liegt unter Wasser. Ganz oben ist die 1.300-Quadratmeter-Ausstellungsfläche, ganz unten das mehr als 1.500 Quadratmeter große Unter-Wasser-Auditorium. Dazwischen Glas und von überall Blicke in schwindelerregende Tiefe. Museen, Galerien und Konzertsäle bieten ein abwechslungsreiches Programm, auf den Spuren von Le Corbusier kann man in der Marseiller Cité radieuse im Süden der Stadt auch das menschliche Maß des Bauens nachvollziehen: Als der streitbare Architekt einen riesigen Betonkasten, den er senkrechte Stadt nannte, deren Fassade mit ihren Fensterbändern und den roten, gelben und blauen Loggias regelmäßig wie ein Setzkasten wirkt, 1952 eröffnete, sprach man vom Haus des Verrückten. Dreizehn Jahre später ist der eigenwillige Künstler beim Baden in Roquebrune-Cap-Martin ertrunken. Doch sein Oeuvre ist auch mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod prägend. Und schön langsam gewöhnen sich selbst die alten Marseiller an den bunten Betonbunker.
Heute ist Marseille eine moderne Metropole mit Charakter und einer bewegten Geschichte. Und entwickelt sich langsam auch zu einer hippen Modestadt. In der schmalen Rue Bussy L’Indien hat Sarah Jeannot, weil sie die nervenden Fragen der Touristen als Fremdenführerin in Nizza nicht mehr ausgehalten hat, vor drei Jahren ein Atelier eröffnet. Ihr Silberschmuck lockt viele Kreuzfahrt-Touristen, die für ein paar Stunden in Marseille shoppen, und so manch verwöhnte Dame aus Paris in ihr winziges Geschäft.
Längst zieht ein eigener südfranzösischer Modestil mit luftigen Stoffen und leuchtenden Farben auch Jüngere an. Der mehr als 60-jährige Designer Freddy Allouche führt sein Geschäft mit der eigenen Modelinie Tata Zize bereits seit fast 30 Jahren. Wer Haute Couture sucht, findet sie in der Rue Rome und der Rue Paradis – zu paradiesisch, pariserisch hohen Preisen.
Im früher berüchtigten Altstadtviertel Panier – wo die Fischer wohnten und bei jedem Wetter aufs Meer hinauszogen, um vor den Frioul-Inseln ihre Netze auszuwerfen – bieten kleine Cafés und Bistros sympathische Atmosphäre, man pflegt das Mediterrane als Lebenseinstellung. In einem kulturellen Schmelztiegel. Bereits bei der Ankunft am Bahnhof Saint-Charles umweht den Besucher die Erinnerung an frühere Zeiten, als Züge und Schiffe den Handel mit fremden Ländern beherrschten: Statuen aus Afrika und dem Nahen Osten zieren Halle und Fassade. Sie erzählen von oft abenteuerlichen Reisen, vom Handel, von fremden Kulturen. Fast riecht man den Duft exotischer Gewürze.
Heimat Zinedine Zidanes
Seit mehr als 2.600 Jahren treffen in Frankreichs ältester Stadt, dem Tor zum Mittelmeer, Europa und Afrika aufeinander. Viele der 850.000 in Marseille lebenden Einwohner sind algerischen, marokkanischen oder senegalesischen Ursprungs. Eines der bekanntesten Einwanderer-Kinder ist der dreimalige Weltfußballer des Jahres Zinedine Zidane.
Am Vieux Port, im Alten Hafen, bieten noch heute am frühen Morgen einige Fischer den Fang der Nacht, Muscheln und Seesterne, Drachenköpfe und Knurrhähne an. Unter einem von Norman Foster geschaffenen, gigantischen Spiegeldach. Und wie eine kulinarische Perlenschnur reiht sich ein Restaurant an das andere. Wenn man hier nicht die berühmte Bouillabaisse probiert, ist man selbst schuld.
Wer die Seele von Marseille sucht, findet sie auch in diesem ehemaligen Armeleute-Essen aus Fischabfällen, das sich zur bekanntesten Fischsuppe der Welt entwickelt hat. Vom Kochlehrling bis zum Maître hat hier jeder sein eigenes, streng geheim gehaltenes Rezept, das ihm die Oma verraten hat. Um die Zubereitung der luxuriösen Gourmandise hat sich in Südfrankreich ein wilder Streit entwickelt – der Suppenkrieg von Marseille. Aber das ist eine andere Geschichte …
Kommentare