Järva, Estland: Irrlichter und Moorgeister
„Mine metsa!“ (wörtlich übersetzt: „Geh in den Wald!“) – das sagen die Esten zu jemandem, mit dem sie das Gespräch beenden wollen, weil er dumm daherredet.
Wie klug das ist, versteht eine sechsköpfige Reisegruppe aus Österreich, nachdem sie gemeinsam zwei Tage in der Hauptstadt Tallinn verbracht hat, ermattet und kraftlos ist und die Gespräche immer belangloser wurden. Da scheint der Waldausflug am dritten Tag der Estlandreise fast erlösend für alle Beteiligten.
Auf der Autofahrt in die zweitgrößte Stadt Tartu beginnt die Natur direkt hinter Tallinns Stadtgrenze. Grüne Landschaft, Weite, Wälder und vereinzelt ein paar Höfe, die einsam stehen. Die Stimmung im Auto kippt schlagartig, Gespräche enden und es wird geschaut. Die Vorfreude auf die Wanderung im Hochmoor Kakerdaja steigt merkbar.
Mitten im Wald des Nationalparks Kõrvemaa kommt der Wagen zum Stehen. Dieser Ort sei ein Geheimtipp, erklärt Indrek Peenmaa den sechs Wieder-Fokussierten. Die anderen Nationalparks seien alle überlaufen oder existieren nicht mehr in ihrer unberührten Natur. Die Artenvielfalt und die Wälder leiden unter den massenhaften Rodungen der Holzpelletshersteller. Dieser Wirtschaftsfaktor sei enorm wichtig für das kleine Land.
Aber die Tiere verschwinden deswegen. Allen voran die Vögel. Doch in diesem Wald im Kõrvemaa spürt man (noch) nichts von den verheerenden Folgen der Abholzungen. Es wuchert idyllisch. Die Gruppe, mittlerweile sind alle in Gedanken versunken, wandert beharrlich auf dem Lehrpfad durch das Dickicht. Plötzlich endet das Waldgebiet, es eröffnet sich die bunte Teppichlandschaft des Hochmoors, die sich bis zum Horizont erstreckt. Trotz, oder gerade wegen des düsteren Wetters bietet sich ein faszinierender Blick auf Flora und Fauna, Sumpf und Teiche. Nun verstehen die sechs die estnische Mythologie mit ihren Schauergeschichten über Irrlichter und Moorgeister. Fleischfressende Pflanzen wachsen am Wegesrand, ebenso Wollgras, Moose, Heidelbeeren und Arten, die noch aus der Eiszeit stammen.
Info
Das Hochmoor Kakerdaja
misst eine Fläche von über tausend Hektar und wird auf vier Kilometern Lehrpfad erkundet, visitestonia.com/de
Laheema
ist der größte und älteste Nationalpark Estlands und liegt am Finnischen Meerbusen, visitestonia.com/de/urlaubsziele/nordestland/der-nationalpark-lahemaa
Die „weißen Nächte“
sind von Mai bis Mitte Juli, wenn die Sommertage bis in die Nacht dauern und es kaum dunkel wird. Sie sind am stärksten um die Sommersonnenwende und dem Johannistag
Über einen schmalen Bohlenweg geht es durch das Sumpfgebiet bis zum Kakerdaja-See. Langsam wird es dunkel, es zieht sogar ein Unwetter auf, dennoch entscheidet sich die Hälfte der Gruppe für einen spontanen Sprung ins kalte Nass. Denn laut Volksglauben bringt ein Moorbad ewige Jugend, eine zarte Haut und einen klaren Kopf. Quasi Lebens- statt Moorgeister. butz
© Bild: Kristin Butz
© Bild: Kristin Butz
© Bild: Kristin Butz
© Bild: Kristin Butz
Kommentare