Wiens aufregendste Fußgängerzone

Nach langer Zeit das erste Mal rauszugehen, bringt endlich etwas Zerstreuung von der Hölle – und die Begegnung mit einer riesigen, enormen Megaschlange, einem Organismus aus Menschen, die alle das Gleiche wollen, aber jeder auf seine Art. Schau, genau! Der Rausch beginnt.

Der Frühlingsbeginn wird essenzieller: Wärmere Temperaturen bedeuten in der apokalyptischen Seuchendystopie endlich: schuldfreies Begegnen. Die Leute sterben still dahin und der Österreicher sitzt seit zwei Jahren zu Hause, schaut Serien, wird blader und birnt seine Freundin. Die Spaltung der Gesellschaft ist subtil: Gesunde entwickeln einen passiv-aggressiven Hass auf chronisch Kranke, Alte verachten die feierwütige Jugend, Systemträger mit Überstunden wollen Gastronomen abwatschen. Reiche werden reicher, Arme ärmer.

Die wärmere Jahreszeit bietet endlich etwas Zerstreuung von der Hölle daheim, denke ich mir, während ich nach einer Woche Quarantäne durch die aufregendste Fußgängerzone Wiens spaziere. Wie schön die Welt ist, die Kleinigkeiten außerhalb der eigenen vier Wände. Imposante Hydranten, aberwitzige Tauben, sogar die Tschick am Boden rühren mein isoliertes Herz. Der Eiswind verbeißt sich in alle Kleiderritzen, aber die Sonne strahlt. Sechs Tage lang habe ich nichts gesehen, außer die Nachbarn durch den Türspion, wie sie verdächtige Dinge tun.

Nun liegt das prächtige Favoriten vor mir und ich jage eine Taubenfamilie, die panisch in den Himmel stürzt. Haha. Lange blicke ich ihr nach, und als ich wieder runter schaue, steht da plötzlich vor mir: eine Schlange. Eine riesige, enorme Megaschlange mitten am Reumannplatz. Seltsam. Ich bin nicht die Einzige, die erstaunt ist, Menschen bleiben stehen, betrachten die Schlange interessiert und machen Fotos mit ihrem Smartphone: „Gib dir die Schlange.“ Die Schlange besteht aus, ich zähle nach, 83 Menschen und die haben nichts Augenscheinliches gemeinsam. Rund um die Schlange sitzen die Leute auf Parkbänken. Ich setze mich dazu und betrachte die spektakuläre Schlange.

Wie schön die Welt ist, die Kleinigkeiten außerhalb der eigenen vier Wände. Imposante Hydranten, aberwitzige Tauben, sogar die Tschick am Boden rühren mein isoliertes Herz.

Kooperativ reihen sich ununterbrochen neue Leute in die Schlange. Ein Herr in Anzug und Krawatte. Ein Paar in afrikanischer Wachsdruckkleidung. Zwei Typen in Schwarz mit dichten Vollbärten. Sie zeigen sich zum Zeitvertreib Boxposen. Eine Frau in enger Laufkleidung kommt in die Schlange, ihr Kopf ist noch ganz erhitzt. Ein Mann mit wil-der Frisur und Schnapsnase stellt sich zigarettenrauchend in die Schlange, ein gebückter Mann mit Jeansjacke humpelt ihm seufzend nach. Ein Mädchen schiebt ihre kleinen Brüder dazu. Die Schlange wächst, dann schrumpft sie plötzlich, dann dehnt sich der Schlangenorganismus wieder aus. Ein Kind möchte in die Schlange, die Mutter zerrt es weiter. „Bitte!“, ruft es, während es schroff am Ärmel vorbeigezogen wird. Jemand vom vorderen Teil der Schlange winkt jemandem vom hinteren Teil der Schlange. Die Schlange spricht hundert Sprachen. Ein Bub bleibt vor mir stehen, deutet auf die Schlange und fragt: „Was da?“ Ich schaue ihn an und sage: „Eis.“ Er runzelt die Stirn, scheint nicht zu verstehen. „Eiscreme“, wiederhole ich. „Der Mensch ist geil auf Eis.“

Eine Böe zieht durch die Schlange, die Leute setzen sich die Pudelhauben auf, zippen sich die Daunenjacken zu und stehen weiter entschlossen ihre zwanzig Minuten in der Schlange. Die ersten kehren zurück. Sie löffeln, sie lecken, sie saugen, sie knabbern, lutschen, tropfen. Ein Mann setzt sich mit seinem Halbliterbecher hin und seine Augen drehen sich sofort nach hinten. Der Rausch beginnt. Wenn die Leute mit ihrer Beute die Schlange verlassen, hört man ihre Belohnungszentren knistern, man spürt das Dopamin in der Luft und schon sitzen sie versunken in allen Ecken des Reumannplatzes. Eine Vertiefung setzt ein, die Familien hören auf, miteinander zu sprechen, die Gedanken scheinen sich zu verlieren irgendwo in den drei bis siebzig Sommern ihres Lebens. Sie schauen verliebt auf ihre Creme und verschwinden in ihrer Gefühlswelt. Jeder hat seine ganz eigenen Präferenzen in der unendlichen Kombinationsmöglichkeit des Speiseeisuniversums, aber essen tun sie alle bedächtig. Während ein alter Arbeiter behutsam das Himbeereis bearbeitet, färbt sich sein borstiger, weißer Schnauzbart langsam zartrosa. Auch aus dem gröbsten Schlägertypen kehrt plötzlich etwas Sanftes und Verletzliches hervor, wenn er mit einem winzigen Löffel in der Pranke besonnen an seinem kleinen Schatz schabt. In allen erwacht ein seliges Kind.

Zur Person

Zur Person

Stefanie Sargnagel, bürgerlich Sprengnagel, ist Autorin und Cartoonistin und polarisiert die Literaturwelt gerne auch mal mit ihren Aussagen. Nach „Fitness“  (2015) und „Statusmeldungen“ (2017) veröffentlichte sie zuletzt „Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin“ (2020).  2021 lief   „Sargnagel – Der Film“ in den Kinos. Die Hauptrolle spielte sie selbst. 
stefaniesargnagel.at
 

Eine Familie ist dran und ihr ganzes System muss neu organisiert werden, die Hände sind voll, die Großmutter übernimmt den Kinderwagen, die Handtaschen werden verstaut, das Baby dient als Abstellfläche. Ganze Sippen stehen gemeinsam in der Schlange, die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, die unter dem Arm die Ururgroßmutter in der Urne trägt, denn: „Heute gemma auf ein Eis! Das „Auf-ein-Eis-Gehen“ wäre ohne die Schlange nur das halbe Erlebnis bei diesem halbseidenen Versprechen einer wärmeren Jahreszeit.

Da fällt einem Kind nach 15 Minuten Warten das Eis auf den Boden. Ich halte den Atem an. Eine Katastrophe. Eine Tragödie, die ultimative Frustration. Sein Schrei geht durch Mark und Bein. Ein Sportler mit Mountainbike trägt sein Eis triumphierend an der Schlange vorbei. Man erkennt sofort den Leistungsmenschen, er trägt die vier Ebenen stolz wie einen phallischen Pokal, wie einen Haselnuss-Zitrone-Vanille-Penis stellt er sein Eis der ganzen Schlange zur Schau. Zwei Eltern verlassen die Schlange mit schreiendem Kind und einer Familienbox. Das Kind kann sein Unglück nicht fassen. 20 Minuten Ausharren ohne Belohnung. „Es ist zu kalt, Dragan!“, ruft die Mutter. „IHR SEID ZU KALT!“, schreit das erschütterte Kind und rammt den Barbaren den Minion-Roller gegen die Köpfe, die Eltern gehen zu Boden, das Kind packt die Box und verschwindet in der Davidgasse.

Um mich herum flutschen tausende rosa Zungen aus den Köpfen in den kalten Brei. Vielleicht sollte man den Impfstoff in Eiskugeln verabreichen, denke ich mir. Erdbeerstückchen hängen in Zahnspangen. Neben mir teilt sich ein Punkerpaar das Töpfchen. Sie küssen sich und vermengen die Sorten. Mir läuft die Gänsehaut über den Rücken. Es hat fünf Grad, aber alle haben beschlossen, dass es der erste warme Tag ist.

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