
Polly Adlers Kolumne: Unter Psycho-Hypochondern
Willkommen auf der Borderline, mit soviel "emotional baggage"
Willkommen im Zeitalter der Psycho-Hypochonder, Nervenzentrum Berlin. Ich meine, wenn du in einer gewissen Bubble nicht zumindest mit einem transgenerationalem Trauma aufzuwarten hast oder auf dem neurodivergenten Spektrum mit einem bislang unentdeckten ADHS-Syndrom ("Das ist ja bei Frauen total anders, das hat ja diese toxisch männliche Science-Community bis jetzt nicht geschnallt!") prahlen kannst, bist du eine total beige Kreatur.
Ich sitze in den Café-Häusern (z. B. einem mit dem Titel "macke-prinz") und lausche den hin- und herfliegenden Theraspeak-Bällen, die die jungen Menschen sich um die Ohren schlagen. Eine bilanziert über einem Avocado-Misopaste-Croissant ihr letztes "Situationship": "Voll das Lovebombing veranstaltet, der Typ."
Liebesbombardement ist der Terminus für das der anfänglichen hormonellen Euphorie geschuldete und entsprechend übertriebene Anbagger-Engagement. Zum Beispiel: Viel Botanik in Rosa, Sätze wie "Wo warst du mein ganzes Leben etc." Die andere nickt: "Pfuuh, da flattern nur so die red flags, wenn einer so krass deine Neediness manipulieren will. Oder er ist der voll paranoide Attachment-Typ, der den Dependency-Ticker in sich rattern hat." – "Feel you, sis, aber vielleicht walkt dieser Kai einfach quite basic auf der Borderline."
Neben der ermüdenden Tatsache, dass hier dieser mit Anglizismen verseuchte Kauderwelsch zum Umgangston verkommt, grassiert auch eine "Diagnostiksitis", eine Besessenheit, der kleinsten psychischen Erschütterung eine schicke Pathologie oder zumindest ein Syndrom umzuhängen.
Das Kind findet das alles nicht komisch, sondern das Neue normal: "Nur weil deine Generation ihr emotional baggage unter den Teppich geswipet hat, müssen wir das nicht auch tun. Frankly: Eine Therapie würde dir nicht schlecht tun." – "Been there, done that, got the T-Shirt. Ich bin ausgestiegen. Meine Therapeutin hatte eine zu schwere Kindheit."
Das Polly-Adler-Muttertagsspecial mit Mavie Hörbiger & Tania Golden im Rabenhof: 11. Mai, 11 Uhr
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