Fabelhafte Welt: Frühmorgens am Stadtrand

Was man auf Baustellen über einen der größten Konstruktionsfehler an der menschlichen Spezies lernen kann.

Neulich weckte mich früh am Morgen ein Brummen und Surren. Es folgte Männergeschrei, das Rumms schwerer, unsanft abgeladener Güter. Die Geräusche fügten sich zu einer wohlbekannten Symphonie: Baulärm. Ich sah aus dem Fenster: An der Doppelhausbaustelle gegenüber wurde weitergebaut.

Lange Zeit war dort nichts passiert, der Keller hatte traurig auf seine über ihm zu errichtende Existenzberechtigung gewartet, Eisenstangen sich hilflos rostend in den Himmel gereckt. Nun verrieten die Toilettenhäuschen, dass der Stillstand tatsächlich ein Ende hatte. Ich freute mich riesig, denn meinem fast zweijährigen Sohn ist der Fernseher wurscht, Baustellen nicht. Unser Rekord beim Baggerbeobachten: 2,5 h. Eilig zogen wir uns an, frühstückten und verweilten vor der Baustelle, bis wir in den Kindergarten mussten. Am Rückweg traf ich den Bauleiter und erzählte ihm, wie sehr wir uns über die Bautätigkeit freuten. 

„Da sind Sie wohl die Einzigen!“, sagte er und berichtete, dass die Baustelle nicht aufgrund von Finanzierungsproblemen brach gelegen hatte, sondern weil Nachbarn einen Baustopp erzwungen hatten. Seit Beginn der Arbeiten seien wir die ersten freundlichen Anwohner, bisher wäre er nur beschimpft worden, weil man sich in der Ruhe gestört fühlte.

Ich sah mich um. Alle umliegenden Gebäude waren vor nicht allzu langer Zeit errichtet oder saniert worden bzw. würden es im Zuge der Energiewende bald werden müssen. Und das sicherlich nicht mit Lärmschutzverkleidung auf den Bauzäunen. Wahrscheinlich ist es einer der größten Konstruktionsfehler an der menschlichen Spezies, dass wir nicht serienmäßig mit der Fähigkeit ausgeliefert werden, anderen zu gönnen, was wir für uns selbst beanspruchen. Doch Fairness wird belohnt! Bambino und ich dürfen demnächst mit dem Bagger mitfahren. Jene Nachbarn, die schimpfen und zetern, die dürfen das nicht.
 

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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