Fabelhafte Welt: Der Farb-Grinch geht um

Warum Buntstifte in Deckung gehen, wenn eine sanierte, cleane Fassade herbeigesehnt wird

Im September wird unsere Fassade saniert. Das ist überfällig, denn von außen sieht unser Häuschen wild aus: Der Zierstuck bröselt, rund um die neuen Fenster ist der Verputz provisorisch, aus den Mauern ragen Kabelstummel und Reste weggeflexter Fenstergitter. Ich finde diese optische Zeitreise nicht uncharmant, die Nachbarn scheinen ihr wenig abzugewinnen, denn regelmäßig entdeckten wir Visitenkarten diverser Fassadenfirmen im Postkasten. Leider wurden sie anonym eingeworfen, deshalb konnte ich dem Absender nie versichern, dass wir so bald als möglich sanieren würden. Denn niemanden stört der Anblick der halb-hinigen Fassade so sehr wie den Mann des Hauses.

Wann immer wir im Garten sitzen, murmelt mein Liebster: "Ich kann es kaum erwarten, wenn alles clean ist.“ In einer sauberen, weißen, einheitlichen Umgebung zu wohnen, ist seine größte Sehnsucht. Neulich sah ich mich gezwungen, ihn aufzuklären: "Liebster, clean wird es bei uns erst dann werden, wenn die Kinder ausgezogen sind. “ Ich deutete auf Bambino I, der in großen Strichen die Regenrinne mit Straßenkreide bemalte. "Sobald die Fassade fertig ist, kommen alle Kreiden und Stifte weg!“, sagte er streng. "Du kannst doch nicht den Kindern die Farben wegnehmen!“ "Nicht nur den Kindern, sondern vor allem dir!“ Mir dämmerte, was mit den Fingermalfarben geschah, die ich seit Wochen suche: Der Farb-Grinch geht um. Ich entschied, nicht zu widersprechen, sondern alle Malsachen zu verstecken, bevor er sie versteckt. Die Bambini und ich werden notfalls in seiner Abwesenheit malen und patzen, damit unser Pater Familias anhand der fertigen Kunstwerke versteht, wie schön das Leben in Farbe ist. Oder bis er akzeptiert hat, dass er daran eh nichts ändern kann. Zumal es sich nirgendwo besser malt, als auf einer weißen, sauberen, einheitlichen Oberfläche, auch clean genannt.

 

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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