Goldener November: In Zweitraffer von mild zu feucht-kalt

Seiler geht von Ziersberg die Köhlbergrunde im Radetzkymarsch.

Ich finde mich auf meiner Runde über den Ziersdorfer Köhlberg auf einem längst abgeernteten Weinberg wieder. Der Weg, dem ich gerade folge, heißt beziehungsreich „Radetzkymarsch“. Der Name hat mit dem nahen Heldenberg zu tun, wo der mythenumrankte Feldmarschall Josef Graf Radetzky neben seinem Kollegen Maximilian von Wimpffen und dem Schuhfabrikanten Josef Gottfried Pargfrieder in einer gemeinsamen Grabstätte ruht. Nicht, dass Radetzky viel mit dem westlichen Weinviertel verbunden hätte. Aber er hatte dem reichen Pargfrieder zugesagt, sich auf seinem „Heldenberg“ begraben zu lassen, nachdem dieser dem unterdotierten Soldaten jahrzehntelang finanziell unter die Arme gegriffen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, und außerdem hat sie Stefan Heym schon wunderbar aufgeschrieben: „Pargfrider“, erschienen bei C. Bertelsmann, vielleicht eine Idee für ein Geschenk an Sie selbst. 

Ich aber gehe und freue mich. Es ist Nachmittag, die Sonne steht schon tief, mein Schatten ist entsprechend lang. Auf dem Himmel sehe ich die Kondensstreifen zahlreicher Flieger, die Unruhe ins tiefe Blau zeichnen und mich normalerweise mit einer ungenauen Sehnsucht erfüllen, mich doch auf den Weg irgendwohin zu machen, wo es gerade schöner, wärmer, anmutiger ist. Aber heute spüre ich diese Sehnsucht nicht. Ich betrachte die Weinstöcke, an denen die letzten gelben Blätter hängen und auf den nächsten Windstoß warten, der sie vom Stamm löst und irgendwohin treibt. Aber noch ist es nicht soweit.

Nur 3 Sekunden noch: In Zeitraffer von mild zu feucht-kalt.

©Klobouk Alexandra

 Ich sehe einem Bataillon Mücken zu, die im Gegenlicht tanzen und sich an den Momenten freuen, in denen die Sonne sie mit ihren späten Strahlen wärmt, bevor sie hinter dem Manhartsberg untergeht und den Weinberg kühl und blau zurücklässt. Ich betrachte die Heckenrosen, die am Wegrand ihre Blüten in  glänzende Hagebutten verwandelt haben. Ich sehe eine einzelne Blume, die an einer unmöglichen Stelle der Jahreszeit trotzt und ihre gelben Blütenblätter stolz nach oben reckt, mir doch egal, ob ich die einzige bin, die blüht, oder ob mich der Novemberregen morgen wegschwemmt und vergessen macht. Jetzt blühe ich. 

Inseln von Gräsern wiegen sich in dem viel zu lauen Lüftchen dieses föhnigen Tages, und binnen Minuten verändern sich die Farben der Landschaft. Im Gegenlicht erkenne ich, dass ein paar Trauben an den Stöcken vergessen wurden, ich biege ab, um nachzuschauen, ob sie noch genießbar sind. Dabei störe ich ein Reh, das jetzt mit großen Sprüngen das Weite sucht. Ich bin entzückt von der Anmut seiner Bewegungen und der Dynamik seiner Sprünge.

So gehe ich über den Weinberg, steige durch Hohlwege bergauf, an einem Marterl vorbei, an abgeernteten Feldern entlang, und was ich empfinde, ist Lebenslust, die von den kleinsten Dingen befeuert wird, die ich sehe, rieche, empfinde. Ich weiß, dass es auf diesem Weg bald grau sein wird und kalt und neblig, aber ich bin fest entschlossen, auch im Nebel dessen Poesie nachzuspüren und der Natur mit der vitalen Neugier zu begegnen, mit der sie uns gesegnet hat. 

Die Route

Ziersdorf - Köhlbergrunde - Radetzkymarsch - Köhlberg - Ziersdorf: 9.000 Schritte

Christian Seiler

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