Seilers Gehen: Gedanken und Gefühle sammeln in Wien
Eine lange Stadtwanderung zum Jahresbeginn: 6.000 Schritte
Ich mache heute eine lange Stadtwanderung, um Sentimente zu sammeln. Das liegt zu Jahresbeginn auf der Hand. Nach der Lektüre unzähliger Jahresrück- und -ausblicke fühlt sich auch das alltäglichste Rundherum so bedeutungsvoll an, dass ich gar nicht anders kann, als hinter jeder Ecke etwas ganz Besonderes zu vermuten. Dabei fällt mir natürlich auf, dass es so etwas wie das Gewöhnliche gar nicht gibt, weil auch das Gewöhnliche aus Besonderheiten gestrickt ist, man muss sich nur den Luxus gestatten, es wahrzunehmen.
Ich gehe vom Urban-Loritz-Platz die Westbahnstraße hinunter, mache einen kurzen Abstecher in die Schottenfeldgasse in die Casa Caria, wo es fantastische Zitrusfrüchte und deren Verarbeitungen gibt, Marmeladen, Liköre, Öle, atme den Duft des Südens ein, bevor ich auf der Westbahnstraße weiter stadteinwärts gehe, nicht ohne im „Schallter“, dem Hifi- und Plattengeschäft Ecke Bandgasse, kurz das Angebot an neuen alten Scheiben in Augenschein zu nehmen (und ja, ich bin am Berlin Döner vorbeigegangen, der für die jüngere Generation kulinarisch ungefähr so bedeutungsvoll ist wie das Steirereck für uns Erwachsene, und nein, ich habe mir dort keinen Snack geholt, weil ich nämlich vorhabe, nie wieder im Gehen zu essen).
Durch die Neubaugasse, die mit unzähligen Herrnhuter Sternen so schön geschmückt ist wie keine andere Gasse der Stadt, gehe ich schnellen Schritts und bemerke, dass die Geschäfte, wo Räucherstäbchen und Impfgegner angeboten werden, langsam am Verschwinden sind und anderen, schickeren Etablissements Platz machen. Die Mariahilfer Straße lasse ich aus, ich biege vor dem Café Ritter in die Schadekgasse ein und folge ihr bis zur Gumpendorfer Straße, betrachte das umgebaute Haus des Meeres und denke dabei zwangsläufig an das verlorene Kunstwerk von Laurence Weiner.
Der große amerikanische Künstler ist im vergangenen Dezember gestorben. Der von ihm für den ehemaligen Flakturm kreierte Schriftzug „Smashed to pieces/in the still of the night“ – „Zerschmettert in Stücke/Im Frieden der Nacht“ – war eines der bedeutendsten Kunstwerke in Wiens öffentlichem Raum, und ich tröste mich über sein Verschwinden nur mit dem schönen, gleichnamigen Song von Thees Uhlmann hinweg, und weil es schon dunkel wird, entschließe ich mich, meinen Weg bis zur Angewandten am Stubenring fortzusetzen, aus Gründen.
Gehe hinunter zum Naschmarkt, überquere Karlsplatz und Resselpark, gehe den Wienfluss entlang durch den Stadtpark und nehme auf der Stubenbrücke Aufstellung, dort, wo – noch so ein Verlust –, früher die Lemuren von Franz West blau bestrahlt wurden, die inzwischen spurlos verschwunden sind. Auf der Feuermauer der von Karl Schwanzer entworfenen Universität für Angewandte Kunst erscheint abends in einer Projektion Laurence Weiners adaptierter Schriftzug. Die Projektion ist ein Echo der Emotionen, die das Kunstwerk andernorts hervorrief, und auch sie wird hier nicht für immer zu sehen sein.
Ich genieße das Sentiment der Gegenwart und jeden Buchstaben.
Die Route
Urban-Loritz-Platz – Westbahnstraße – Neubaugasse – Schadekgasse – Gumpendorferstraße – Stiegengasse – Naschmarkt – Resselpark – Lothringerstraße – Stadtpark – Stubenbrücke: 6.000 Schritte
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