Schoah-Namensmauer
Seilers Gehen

Diesen Ort in Wien möchte ich nicht missen

Ein Spaziergang zum denkwürdigste Gebäude, das im vergangenen Jahr entstanden ist: die Schoah-Namensmauer.

Vom Siemens-Nixdorf-Steg aus schaue ich mir eine bemerkenswerte Baulücke im zweiten Bezirk an. Für alle, die sich mit Bauwerken, die nach Firmen heißen, nicht so gut auskennen: Besagte Brücke führt auf der Höhe der Seegasse über den Donaukanal. In den Jahren davor hatte hier eine kleine Fähre ihren Dienst getan, und die Brücke bekam ihren Namen, weil sich an der Oberen Donaustraße das Siemens-Nixdorf-Gebäude befand, ein Stahl-Glas-Komplex, der Anfang der neunziger Jahre errichtet wurde.

Das Bürohaus galt keine dreißig Jahre später nicht mehr als zeitgemäß, weshalb es abgerissen wurde. Es soll durch etwas Nachhaltiges, nämlich „Europas erstes Stadtquartier in Holzbauweise“ ersetzt werden, das klingt erfreulich. Aber ich kann mich beim Betrachten der Baulücke des Gedankens nicht erwehren, dass es vielleicht nachhaltiger gewesen wäre, ein bestehendes Gebäude länger zu nutzen.

Ich gehe also ein bisschen nachhaltigkeitsskeptisch durch den neunten Bezirk, lasse mich treiben, an ein paar guten Wirtshäusern vorbei, die heute leider unbesucht bleiben müssen, schlendere durch die Servitengasse, die ja inzwischen zu einem Showcase für gehobenen, urbanen Konsum geworden ist, gehe am Gasthaus Rebhuhn vorbei, wo ich zuletzt ein außerordentlich gutes Schnitzel gegessen habe, beaufsichtigt von bewunderungswürdigen Auskennern, die mich hierher gelotst hatten.

64.000 Namen

Dann gehe ich die Berggasse bergauf und beschließe, mir das vielleicht denkwürdigste Gebäude anzuschauen, das in Wien im vergangenen Jahr entstanden ist: die Namensmauern-Gedenkstätte im Wiener Ostarrichipark. Es ist unmöglich, sich der Schwerkraft der 160 Gedenksteine zu entziehen, die vor dem imposanten, von Otto Wagner geplanten Gebäude der Nationalbank errichtet wurden. Auf ihnen sind die Namen von 64.000 in der Schoah ermordeten jüdischen Kindern, Frauen und Männern eingraviert. Es gab viele Diskussionen über das Memorial, dessen Errichtung maßgeblich auf die Initiative des Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter zurückgeht. Es gäbe modernere Arten der Erinnerungsarbeit, meinten diverse Zeithistoriker.

Aber selbst wenn sie recht haben, möchte ich diesen Ort nicht missen, kaum dass ich ihn betreten habe: Die aus sandsteinfarbenem Granit gefertigten Erinnerungssteine verwandeln den Park in einen Ort der Ruhe und der Nachdenklichkeit. Die tausenden Namen an den Wänden laden dazu ein, nach einzelnen Erinnerungen zu suchen, aber auch die Dimension der Tragödie zu erfassen, die tief in unserem Bewusstsein verankert ist und die wir uns doch immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen.

Ich drehe langsam eine Runde, dann noch eine. Im Hintergrund feiert sich die Nationalbank mit der großzügigen Beleuchtung ihrer imposant gegliederten Fassade, und bestimmt fahren ein paar Straßenbahnen auf der Alser Straße vorbei, aber ich höre sie nicht. Vor den Steinen flackern Kerzen, und Menschen treten in den Park, werden langsamer, nicken einander zu. Hier ist ein Ort entstanden, wie ihn die Stadt braucht. Mein Dank geht an Kurt Yakov Tutter.

Schoah-Namensmauer

Die Gedenkstätte für 64.000 Ermordete im Ostarrichipark vor der Nationalbank

©Klobouk Alexandra

Die Route

Siemens-Nixdorf-Steig – Seegasse – D’Orsay-Gasse – Pramergasse – Servitengasse – Berggasse – Schwarzspanierstrasse – Ostarrichipark: 2.800 Schritte

Christian Seiler

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