
"Zirkus macht süchtig": Hinter den Kulissen beim Cirque du Soleil
Backstage bei der neuen Show "Kurios" in Wien: So ticken und trainieren die Artisten, so funktioniert der Superzirkus.
Es geschieht vorerst in der mucksmäuschenstillen Einsamkeit einer leer gefegten Manege, gemacht ist es jedoch für den Anblick von Millionen auf der ganzen Welt. Leicht wie eine Feder wirkt der muskelbepackte Hüne, wie er da gerade an einem Seil, das von der Decke des Zeltes baumelt, hoch hinauf in die Luft gezogen wird – an nur einer Hand, versteht sich.
Dann beginnt die Magie: Der Akrobat wirbelt um die eigene Achse, turnt am Seil, dreht sich darin ein und noch höher hinauf, als würde ein unsichtbarer Riese ihn um den Finger wickeln – artistische Höchstleistung, Kraftakt und mühelos wirkende Eleganz. Dann lässt der Turner los: alles auf Anfang.
Noch schauen nur ein Kollege und zwei Trainer zu – und wir, die wir die Szene heimlich hinter einem Vorhang versteckt beobachten. In wenigen Tagen wird das ausgeklügelte Kunststück perfektioniert sein und das Publikum im Cirque du Soleil mit der neuen Show "Kurios – Kuriositätenkabinett" ordentlich in Staunen versetzen: tosender Applaus garantiert.
Show der Superlative
Der Cirque du Soleil ist die Champions League für Artisten. 50 Künstler aus 21 Ländern treten auf. 120 Menschen aus 31 Nationen, von Techniker bis Chefkoch, reisen insgesamt mit, 464 Requisiten und Tonnen an Ausrüstung wurden in 85 Trucks angekarrt, das 25 Meter-Zelt in Neu-Marx in 15 Tagen aufgebaut. Der Aufwand ist notwendig: 2.600 Zuschauer pro Vorstellung wird der Superzirkus bis zum 11. Mai begeistern. Mehr als 90.000 Tickets sind bereits verkauft.
Es ist das 35. Programm des Cirque du Soleil. "Die größte Herausforderung ist, sich immer etwas Neues einfallen zu lassen." Michael Smith – Schal, Sidecut, Flinserl – sitzt vor uns im leeren Zuschauerraum, er seufzt und lächelt zugleich, als er es sagt. Smith ist der kreative Kopf und künstlerische Leiter des Zirkus. Smith sieht nach vorne, Richtung Manege.

Mastermind des Spektakels: Michael Smith, künstlerischer Leiter
©kurier/Martin Winkler"Es darf sich nichts wiederholen"
"Den Zirkus gibt es seit 40 Jahren. Wir haben den Ruf, besonders innovativ und kreativ zu sein. Es darf sich also nichts wiederholen." Dafür sorgt ein Team im Hauptquartier in Montreal. Das tüftelt ständig an Ideen. Nicht alles lässt sich auf Zirkus umlegen, etwa Parcours, das Laufen und Springen über Hindernisse. "Das sieht online toll aus – aber lässt sich schwer integrieren."
An erster Stelle steht für Smith aber das große Ganze, wie er betont. "Das universelle Thema der Show, die menschliche Botschaft, die wir vermitteln wollen, die alle Kulturen verbindet und uns erlaubt, durch die ganze Welt zu reisen", erklärt er. "Erst dann überlegen wir, welche Art von Akrobatik dieses Thema unterstützt."
Darum geht's in "Kurios"
Bei "Kurios" ist es folgende Handlung geworden: Im Zentrum eines verborgenen Kosmos steht ein Forscher, dessen Vorstellungskraft seinen Glauben an Wunder beflügelt. Mittels waghalsiger Akrobatik werden die mechanischen Marionetten seines Kuriositätenkabinetts durch außerirdische Charaktere zum Leben erweckt.
Ein schillerndes Spektakel, skurril, poetisch und witzig zugleich entfaltet sich damit – inspiriert durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Eine Zeitreise und eine Hommage an diese Zeit, in der viele neue Erfindungen entstanden sind und die sich in Requisiten wie Dampfloks oder Grammophonen widerspiegelt. Und dem Publikum die Botschaft mit nach Hause geben soll, dass nur weil etwas nicht existiert, es dennoch Wirklichkeit werden kann: Alles ist möglich.
Fliegen erfordert Teamarbeit
Dafür soll auch stehen, was nun in der Manege trainiert wird: Acro Net, eine Nummer, auf die der Cirque du Soleil besonders stolz ist. Nur hier sei sie zu sehen.
Tatsächlich ist das Unterfangen, das geboten wird, höchst schwindelerregend. Bis zu sieben Menschen üben auf einem großen, federnden Netz spektakuläre Sprünge – so hoch fliegen sie, beinahe können die Artisten dabei das Dach des Zirkuszelts berühren.
Gerade wird der Neue in diese Kunstfertigkeit eingearbeitet; Aleh aus Belarus war zwar Weltmeister im Trampolinspringen, doch ist Acro Net mehr als das. Es erfordert eine eigene Technik und ist Teamarbeit: Ein Artist steigt nur dann in die Höhe, wenn seine Kollegen durch ihre eigenen Sprünge seine Flugkünste entsprechend steuern.
"Fliegen zu können macht Spaß"
Mathieu Hubener coacht die Überflieger und springt selbst mit. Mit angespanntem Körper, einem Lächeln, die Hände hinterm Rücken steht er im Trainingsanzug vor uns. "Fliegen zu können macht Spaß", sagt er verschmitzt. "Sehr viel sogar."
Im Grunde mache er nichts anderes, seit er ein Kind sei, erzählt er. Er komme vom Turnen und Trampolinspringen. "Ich habe das Glück, dass ich das zu meinem Beruf machen durfte." Seit 15 Jahren ist der Franzose beim Zirkus. Genug hat er nicht davon. Würden es noch einmal 15 Jahre, grinst er, wäre er glücklich.
Wir befinden uns inzwischen backstage. Auf dem Trampolin dort führt Hubener Trainingssprünge vor. Mühelos hüpft er in die Lüfte, legt ein paar lockere Salti hin, erst vor- dann rückwärts, schneidet lustige Grimassen – so selbstverständlich, als würde unsereiner bei Grün über den Zebrastreifen gehen.

Beim lockeren Trampolin-Training backstage: Mathieu Hubener
©kurier/Martin WinklerEs geht zu wie am Pausenhof
Hinter ihm wird den anderen Artisten auch nicht langweilig. Der eine jongliert (zur Entspannung), eine andere hebt Gewichte (um noch stärker zu werden), auf den Matten wird gedehnt, einen Meter daneben hat sich ein Muskelmann in Shorts am Sofa gemütlich ausgestreckt und scrollt durch seinen Feed auf Instagram. Unmittelbar neben ihm hängt eine junge Frau kopfüber in der Luft – und tritt auf einem verkehrt hängenden Fahrrad in die Pedale.
Auch ihr Make-up tragen die Artisten hier auf. Hinter den Kulissen beim Cirque du Soleil: Das muss man sich vorstellen wie eine Mischung aus Spielzimmer, Turnunterricht und Zehn-Uhr-Pause in der Schule. Und: Es ist jener Ort, an dem die Magie der Manege entsteht – und deren harte Währung heißt Übung, Übung, Übung.

Er trägt sich auf Händen: Arsenii Khrapeichuk, Meister der Körperbeherrschung
©kurier/Martin WinklerHandfeste Arbeit
Vier Stunden täglich trainiert Arsenii Khrapeichuk, ein Mann, dessen Werkzeug sein eigener Körper ist. Er balanciert auf seinen Händen, verrenkt sich in alle Richtungen, gern auch auf einer Hand – und das auf einem Sessel, der auf einem Sessel steht sowie einem gedeckten Tisch (in der Manege) oder auf einem Aufstützpunkt, der nicht größer ist als ein Bierdeckel (zum Üben).
Der Ukrainer ist ein Meister der Körperbeherrschung. Wie viel Armkraft dafür nötig ist, erfahren wir, als wir unter Arseniis Anleitung selbst versuchen, eine Übung nachzumachen. Da kommt man schnell ins Ächzen.
Er war ein wildes Kind, das überall hinaufklettern wollte, kaum zu zähmen war, so Khrapeichuk, deshalb schickten seine Eltern ihn zur Ausbildung für den Zirkus. Eine Liebe, die allerdings erst wachsen musste. "Anfangs bedeutete mir der Zirkus nichts. Erst später hat etwas im Kopf Klick gemacht – und heute ist er mein Leben", verrät er. Unter Lampenfieber leidet er dennoch vor jeder Vorstellung. Seine wichtigste Eigenschaft? "Disziplin – nur damit erreichst du große Ziele."
"Irgendjemand vermisst immer seine Hose"
In seiner Nähe, wo er übt, wird inzwischen emsig an den Nähmaschinen gearbeitet. 8.000 Kostüme sind beim Cirque du Soleil in Verwendung (darunter 200 Schnauzbärte, wer mit Extra-Wissen prahlen möchte) – und die müssen permanent angepasst oder repariert werden, wie uns Kostümchefin Mar Gonzalez Fernandez – zwischen Stoffbahnen und Waschmaschinen – erklärt.
Wie so viele hier ist sie schon lange dabei, neun Jahre. Stress ist sie gewohnt, gerade wenn in letzter Sekunde vor dem Auftritt noch etwas passiert. "Irgendjemand vermisst immer seine Hose." Dennoch möchte sie keine Sekunde vermissen, von diesem unsteten Leben. "Seien Sie vorsichtig: Zirkus macht süchtig", warnt sie.
Und das obwohl man alle paar Monate in eine andere Stadt weiterzieht. "Wir müssen viele Opfer bringen, um das zu tun, was wir tun", sagt Artistic Director Michael Smith. Die Familien der Zirkusleute warten oft am anderen Ende der Welt. "Es gibt eigentlich nichts Glamouröses an diesem Job, auch wenn es so aussieht. Es ist harte Arbeit. Aber wir kümmern uns um die Menschen – und das Team wird zur Familie."
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