Was fasziniert uns so an Mittelalter- und Fantasy-Geschichten?
Schwerter und Magie, wo man hinsieht. Amazon produziert gerade mit unfassbarem Budget eine „Herr der Ringe“-Serie. Die Konkurrenz setzt auf ein Prequel von „Game of Thrones“ und Erfolgsserien wie „The Witcher“.
Wenn Amazon-Chef Jeff Bezos sich persönlich für eine „Herr der Ringe“-Verfilmung einsetzt und sich den Spaß sagenhafte 465 Millionen US-Dollar kosten lässt – nur für die erste Staffel! – dann tut er das nicht, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen. Vielleicht auch, aber in erster Linie ist er Geschäftsmann und will Gewinne machen. Er geht also davon aus, dass die mit Abstand teuerste Serie der Welt, die nächstes Jahr auf unsere Bildschirme kommt, auch ein Erfolg wird. Und auch wenn der Betrag tatsächlich aberwitzig ist – nur zum Vergleich, die letzte „Game of Thrones“-Staffel kostete 90 Millionen Dollar –, könnte Mr. Bezos durchaus Recht behalten.
Denn der Hunger der Fans nach Historien- und Fantasystoffen scheint unstillbar, nimmt praktisch Jahr für Jahr zu. Wer nach dem Ende von „Game of Thrones“ vor mehr als zwei Jahren dachte, jetzt sei aber Schluss damit, irrte gewaltig. „The Witcher“, die Story des mittelalterlichen Monsterjägers Geralt von Riva brach seither etliche Rekorde und machte Hauptdarsteller Henry Cavill endgültig zum Superstar. Dazu kommen Erfolgsserien wie „Last Kingdom“, „Vikings“, „Cursed“, „Knightfall“, „The Spanish Princess“, „El Cid“, „Miracle Workers II“, „Der Name der Rose“, aber auch Hollywood-Filme wie „The King“ oder eben erst „The Last Duel“. Und nein, hier werden nicht willkürlich Fantasy- und Mittelalter-Stoffe vermischt, die Genres sind seit jeher miteinander verwoben. Die Original-Storys aus dem Mittelalter lesen sich wie die Vorlagen zu großen Fantasy-Produktionen – wir denken nur an den eben abgefeierten Streifen „The Green Knight“ – und auch schon beim ersten weltweiten Mittelalter-Hype in der Romantik, also im späten 18. und 19. Jahrhundert, wurden Elemente beider Genres ganz selbstverständlich vermischt. Damals waren diese Sujets unglaublich beliebt, gerade unter jungen Frauen und Männern grassierte eine regelrechte Sucht nach einschlägiger Lektüre, die manch ältere Semester schon für gefährlich hielten.
Wie alles begann
Vor genau 20 Jahren erlebte das Genre einen entscheidenden Input: Mit Schwertern, Dolchen und Bögen bewaffnet verteidigt eine Gruppe Abenteurer einen merkwürdigen Ring gegen das absolute Böse. Und praktisch die ganze Welt fieberte mit. Was vor Peter Jacksons vielfach oscarprämierter „Herr der Ringe“-Verfilmung undenkbar war, wurde Realität. Erwachsene Menschen, Polizisten und Postbeamte, Chirurgen, Einzelhandelskaufleute und Banker interessierten sich plötzlich für Elfen und Zwerge, Hobbits, Zauberer und Orks. Kurz: all das, was als „Fantasy“ immer ein wenig belächelt wurde. So wie Rittergeschichten höchstens etwas für Kinder sind, pickelige Jugendliche, die bei der Schulparty im Lager des anderen Geschlechts nicht reüssieren, und ein paar ewige Nerds natürlich.
„Das Mittelalter ist eine Zeit, die so viel direkter, so viel praller war als unsere moderne Welt“, sagte dazu Bestseller-Autor Michael Crichton, der gleich zu Beginn des Booms eine gute Nase bewies und mit „Timeline“ selbst einen Erfolgsroman zum Thema abgeliefert hat. Ist ja auch atemberaubend schön: Große Roben und stolze Recken, gefangene Burgfräulein und Ritter in schimmernden Rüstungen, dazu Verrat, Betrug, Kampf, Freundschaft. Und als Extra Dinge, die gerade heute wieder hoch im Kurs stehen, Ursprünglichkeit etwa, Überschaubarkeit und selbst gebackenes Brot.
Zeit der Zwänge und Verbote
Andererseits gab es im Mittelalter, ganz abgesehen vom Mangel an High-Tech-Bohrern, die den Besuch beim Zahnarzt heute beinahe zum Vergnügen machen, eine Latte an Zwängen und Plagen, die wir uns eher nicht antun wollten, oder? Frauen in CEO-Positionen waren noch seltener als heute, und sogar wenn sie sich ganz nach oben intrigierten wie Cersei Lannister, blieben sie doch meist von Männern abhängig. Karriere mit Lehre? Fehlanzeige. Meinungsfreiheit? Niet. Jeder ist was Besonderes und zeigt das der ganzen Welt auf TikTok und Insta? Ab auf den Scheiterhaufen!
Warum um alles in der Welt sehnen wir uns also nach Beschränkungen und Konventionen, die wir mit sehr viel Mühe überwunden haben? Ist das nicht paradox?
„Unser Lebensziel heute heißt Genuss und Selbstverwirklichung“, meint Meinhard Miegel, Wirtschaftsprofessor aus Bonn. Das mache aber auch Stress. Und gerade hier sieht er den Reiz der Vergangenheit, in der die Gemeinschaft das bestimmende Element war und strenge Regeln das Miteinander zwar beschränkten, aber auch viel einfacher machten. Ins gleiche Horn stößt der deutsche Soziologe Heinz Bude. „Mehr Möglichkeiten zu haben, wie eben heute, ist prinzipiell eine Bereicherung“, sagt er. Nur gehe mit der Vielzahl der Möglichkeiten eben auch die Angst einher, die falsche Wahl zu treffen. Und genau vor dieser Angst waren unsere Altvorderen gefeit. Pest, Cholera und andere Seuchen, Wikingerüberfälle oder Drachenangriffe – ja. Aber nicht diese ständige Panik, etwas zu versäumen, wenn man sich jetzt für die oder den entscheidet, das falsche Handy zur falschen Zeit kauft, im auf einmal nicht mehr angesagten Club abhängt, auf Elektroauto umsteigt oder sich lieber einen V8 zulegt. „Immer gibt es einen, der noch besser, noch schneller, noch cleverer sein könnte. Einkommen, Ausbildung, Persönlichkeit, Beziehung, Outfit, Sex, Kinder: Überall herrscht heute weit mehr Wettbewerb als früher.“
Und so ziehen wir uns für ein paar Stunden pro Woche in eine Welt zurück, in der die Dinge noch ein wenig einfacher waren. Ganz wie Novalis und seine Buddys zur Zeit der Romantik. Ist auch gar nicht schlecht, sagt die Wissenschaft. Wie ein Team von der Sun-Yat-sen-Universität im chinesischen Guangdong kürzlich herausfand, schmälern nostalgische Gefühle nicht nur psychisches und körperliches Unbehagen, sie erhöhen sogar unsere Toleranz dagegen. Etwa gegen Kälte. Und das ist doch gerade jetzt genau das, was wir brauchen.
Kommentare