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Japanisches Meisterwerk: Im Striplokal ans Sterben gedacht

Shichiro Fukazawa: Die „Narayama-Lieder“ wurden neu übersetzt

Der Roman „Die Narayama-Lieder“ entstand großteils in einem Striplokal in Tokio, wo Shichiro Fukazawa 1955 als Gitarrist beschäftigt war.

In den Pausen schrieb er:

„Berg an Berg an Berg – so weit das Auge reicht, nichts als Berge.“

Im lauten, lebendigen Striplokal schrieb er über ein Dorf, abseits der Welt, abseits der Gesetze, in dem sich die Menschen, wenn sie 70 sind, zum Sterben zurückziehen müssen.

Sie werden huckepack genommen und auf dem Gipfel des Narayama ausgesetzt.

Damit die anderen leben können: Es gibt zu wenig zum Essen, nur Hirse und Mais wachsen an den steilen Hängen. Reis ist eine Kostbarkeit und wird nur ein Mal im Jahr gegessen.

Blues

Vor „Die Narayama-Lieder“ hatte Shichiro Fukazawa nichts veröffentlicht.

Man war von dem Meisterwerk überrascht.

Man ist, die neue Übersetzung in Händen, noch immer überrascht. So schön. So schrecklich.

Ein paar Sätze nur, dann ist Leben in der Wurzelhütte, der Regenhütte, der Eibenhütte ...

Lieder sind in die Geschichte geflochten, von eingelullten Bohnen etwa (das sind „eingeweichte Bohnen“). Noten sind abgedruckt. Der ganze kurze Roman ist ein Blues wie Duke Ellingtons „Same Old Blues“ („... ich denke, es ist Zeit, mich gehen zu lassen“)

Erfindung

Der Autor täuscht vor: In grauer Vorzeit war das Ende mit 70 japanischer Brauch.

War es nicht.

Alles Erfindung.

Woher Orin die Kraft nimmt, überpünktlich den Weg anzutreten, bleibt offen. Die Frau fiel niemandem zur Last, im Gegenteil: Sie weiß, wo man Saiblinge fängt. Sie managt, dass ihr Sohn (Witwer) noch eine Frau (Witwe) findet, bevor sie geht.

Liebend

An der Kante des Mühlsteins schlägt sie sich die Vorderzähne aus. Sie hatte sich für ihre guten Zähne im Dorf geniert. Mit 70 darf man keine Zähne haben. Jetzt lacht sie.

Orin ist eine liebende Mutter. Tatsuhei ist ihr liebender Sohn. Tatsuhei weint. Er will sie nicht verlieren. Er muss gehorchen. Und trägt sie, dem Ritual entsprechend, auf dem Rücken über vier Berge und sieben Täler zum Heiligen Narayama.

Auf einem Felsen, wo noch keine verwesende Leiche liegt, setzt sie sich auf eine Matte.

Tatsuhei dreht sich noch um, das ist eigentlich verboten, winkt, ruft: „Es schneit!“

Das Nachwort des Schweizer Japanologen Eduard Klopfenstein ist wichtig. Sonst würde man nichts über Fukazawa erfahren: Gitarrist, Chrysanthemenzüchter, Hausierer, Bauer, Besitzer eines Lokals für Palatschinken mit Bohnenmus. Unabhängig. Unangepasst. Als er 1987 starb, war er 73.

In den „Narayama-Lieder“ will einer nicht auf den Berg. Sein Sohn bindet ihn an der Trage fest und wirft den Vater bereits während der Reise in einen Abgrund.

Wie soll man sterben? Leise? Fukazawa interessierte mehr, was vor dem Sterben sein soll. Mensch soll man bleiben.

 

Foto oben: Goldene Palme 1983 für die Verfilmung „Die Ballade von Narayama“

Shichiro
Fukazawa:

„Die Narayama-Lieder“
Übersetzt von Thomas Eggenberg. Nachwort Eduard Klopfenstein. Unionsverlag.
128 Seiten.
20,95 Euro

KURIER-Wertung: *****

Peter Pisa

Über Peter Pisa

Ab 1978 im KURIER, ab 1980 angestellt, seit November 2022 Urlaub bzw. danach Pension. Nach 25 Jahren KURIER-Gerichtsberichterstattung (Udo Proksch, Unterweger, Briefbomben) im Jahr 2006 ins Kultur-Ressort übersiedelt, um sich mit Schönerem zu beschäftigen. Zunächst nicht darauf gefasst gewesen, dass jedes Jahr an die 30.000 Romane erscheinen; und dass manche Autoren meinen, ihr Buch müsse unbedingt mehr als 1000 Seiten haben. Trotzdem der wunderbarste Beruf der Welt. Man wurde zwar immer kurzsichtiger, aber man gewann an Weitsicht. Waren die Augen geschwollen, dann Musik in wilder Mischung: Al Bowlly, Gustav Mahler, Schostakowitsch und immer Johnny Cash und Leonard Cohen.

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