Marlene Streeruwitz

Interview Marlene Streeruwitz: „Reden wir doch über das Dilemma“

Sie gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart: Marlene Streeruwitz spricht mit der freizeit über Sex, Prinzessinnen, Donald Trump – und ihr aktuelles Buch „Auflösungen“.

Romane, Theaterstücke, Lyrik, Essays – und vor allem: Preise über Preise. Marlene Streeruwitz ist  mit 75 so produktiv, engagiert und erfolgreich wie eh und je. Streitbar auch, natürlich, und zwar ebenso unvermindert. 

Eine Frau mit Rückgrat. Die sich kein Blatt vor den Mund nimmt.  Mit der "freizeit"  traf sie sich im Wiener Stadtpark zu einem intensiven Gespräch.   

Frau Streeruwitz, „Auflösungen“ kann man unterschiedlich deuten. Ihre Protagonistin Nina löst gerne Rätsel in der New York Times. Aber es könnte auch sein, dass sie selbst sich auflöst, oder?

Das tut sie sicher auch.

Marlene Streeruwitz

Marlene Streeruwitz ist eine der wichtigsten Stimmen des Landes  

©kurier/Martina Berger

Könnte sich auch ihr Dilemma auflösen?

Ja, reden wir doch über das Dilemma. Sie als Mann sehen die Situation dieser Frau als Dilemma –  wir leben ...

Ja, reden wir doch über das Dilemma. Sie als Mann sehen die Situation dieser Frau als Dilemma –  wir leben das relativ normal. Schlecht bezahlter Job, alleinerziehende Mutter. Aber sie hat alles geschafft, sie schreibt, sie unterrichtet, ihre Tochter ist Pathologin geworden ... Gut, darüber könnte man sich wundern, warum sie Pathologin geworden ist.

Wie sähe ein glückliches Leben aus?
Mit Kindern: gemeinsam, freundlich, zugewandt, aufgeteilt. Eine geteilte Verantwortung für ihre Pflege – da beginnt Veränderung. Die ist nötig, denn die Grundprivilegierung des Mannes ist derzeit ja nicht besprechbar, weil sie kulturell so tief eingegraben ist. Ein Reality-Check der Männer, die so tun, als wären sie Männer im 19. Jahrhundert – aber das sind sie nicht.
Marlene Streeruwitz

Marlene Streeruwitz und Andreas Bovelino im Gespräch

©kurier/Martina Berger

Mit so einem Reality-Check wären wohl einige Männer nicht einverstanden.

(lacht) Nein, sicher nicht.

Wie geht ein Vater damit um, wenn sein Sohn   frauenverachtende Typen wie den Influencer Andrew Tate cool findet?

Er sollte ihm sagen: „Ich will den nicht. Der ist ein Arsch. Tu den weg.“

Aber benimmt er sich dann nicht  wie  sein eigener Vater, der Hippies und Rockmusik verteufelte – und so noch interessanter machte?
Damals wurde die Vätergeneration angegriffen. Die hat versucht, sich mit Verboten zu wehren. Wenn heute ein  Vater gegen Männer wie Tate vorgeht, dann nicht, weil er angegriffen wird. Er sollte dem Sohn klar machen, was da propagiert wird. Und wie andererseits die eigene Familie lebt, die Freunde, die glückliche Mehrheit und wie das einfach nicht zusammenpasst.
Zwei Kritikpunkte sind, dass es einerseits eine rein konservierende Form hat und andererseits  mit verkopft-aktuellen Dingen am Publikum vorbeiproduziert. Jetzt spielten Sie in der vergangenen Saison aber in einem Stück, das durchaus nicht am Publikum vorbeiging.

Sie meinen "Ellen Babić"? Ja, das war doch sehr erfolgreich ... Der Autor Marius von Mayenburg schreibt fantastische Dialoge!  Und dazu kommt die Handlung, die das Publikum einfach nicht loslässt, gerade weil sie mit gängigen Erwartungen spielt – und ihnen dann oft nicht entspricht.

Warum passt das nicht?
Vor mehr als 220 Jahren wurde die französische Revolution befriedet, indem der Code civil etabliert wurde. Mit dem wurde dem Mann die Familie zur Herrschaft übergeben, damit er im Staat Ruhe gibt. Ein Deal, ein Tauschhandel: Frauen und Kinder wurden für den Frieden im Land geopfert. Männer wie Tate leiten ihre Ideen noch immer aus dieser Logik ab und glauben, dass es einem Mann zukommt, die Familie, die Frau – alle Frauen – zu beherrschen. Die Situation heute ist allerdings eine völlig andere, nämlich vorrevolutionär, nur über Eigentum und Herkunft definiert.
Weshalb unterstützen dennoch viele Frauen einen Politiker wie Donald Trump? Pam Bondi, Karoline Leavitt, Marjorie Taylor-Greene,  Lauren Boebert, Kristi Noem ...

Über die konservative Frau müssen wir nicht weiter reden, die ist immer so. Sie unterstützt das System, hofft auf gute Worte des „Vaters“. Und die bekommt sie dann auch hin und wieder.

Damit kommen wir zu einem Thema, mit dem Sie sich immer wieder  beschäftigen: Prinzessinnen.

Ja, ich schreibe jetzt an einer eigenen Prinzessinnenkunde. Die Prinzessin kann gar nicht anders, als auf den Vater zu hoffen. Sie ist vollkommen zum Objekt geworden, das irgendwann gegen Land eingetauscht wird oder gegen Macht. Eine Person, die zu einem reinen Tauschwert geworden ist. 

Und dieser König ist der Familienvater. Wenn wir noch weiter zurückgehen wollen als zur Französischen Revolution, könnte man auch bei den antiken Griechen ansetzen, deren sogenannte Demokratie auch nur so funktionierte, dass jeder Mann ein König in seinem Haushalt war, und damit gleichberechtigt zu allen anderen Männern ...

Ja, der Hausvater, der Hirte. In einem Kinderbuch des jetzigen FBI-Chefs Kash Patel kämpft  Trump als Königsanwärter gegen Hillary Clinton. Am Ende siegt er und sitzt  als König mit lauter  Männern an einer langen Tafel. 

Und die Prinzessin will dem Vater gefallen?

Genau.

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©kurier/Martina Berger

Und anderen Männern. Im Roman beschreibt Nina es als „sich feilbieten“.

Aber ja. In der New York Times war dazu gerade ein wunderbarer Aufsatz über Dating-Apps. Da lernen mittlerweile aber auch die Frauen, die Burschen zu ghosten. Und ich weiß nicht, ob das ein Fortschritt ist. Aber jedenfalls: Ein Foto auf die App zu stellen ist schon ein Feilbieten.

Es ist ein wenig irritierend, wenn Sie beschreiben, was Nina alles anstellt, um zu gefallen. Während der Konsens doch lautet, dass nichts, was Frauen machen oder anziehen, etwas mit Männern zu tun hat.

(lacht) Ja, das wäre schön, wenn’s so wäre ... Aber natürlich geht's um Zuwendung, Nähe, Liebe. Und natürlich kümmert sich jede Person eben um ihre sexuelle Versorgung.

Dann lassen Sie uns über Sex reden.

Okay.

Im Buch hofft Nina, dass Sex einen Mann verändern könnte, „einen anderen aus ihm“ mache. Das haut selten hin, oder?

Nein, aber wir leben halt immer noch in einer Kultur der sexuellen Magie, in der durch sexuelle Zuwendung auch eine Transformation stattfindet. Es ist ja noch immer ein eher diskreter, komplexer Prozess. Also durchaus etwas Besonderes, wenn man dann einmal jemanden gefunden hat, mit dem die Möglichkeit überhaupt ins Auge gefasst werden kann.

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©kurier/Martina Berger

Auch in einer Zeit der von Ihnen zuvor erwähnten Dating-Apps?

Sie haben Recht, hier kommt's schon auch zu Sex „ohne Anlauf“, wie’s in der Fachsprache heißt. Also Befriedigung, aber nicht Beziehung. Ich finde es allerdings doch wunderbar, dass es meist kein mechanischer Vorgang ist, sondern dieser manchmal mühselige, spannende, aufregende und unser Leben erhaltende Grundprozess, Intimität zu finden. Das auch noch kulturell einbauen zu können ...  das halte ich für das, was Kultur eigentlich ist.  

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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