Abstrakte Kunst oder Objekt? Warum die Forcola das Herzstück Venedigs ist
Was wäre die Lagunenstadt ohne ihre Gondeln? Wenige wissen, dass hinter den schwimmenden Wahrzeichen besondere Handwerker stecken.
Unglaubliche vierzehn Millionen Touristen lassen sich laut UNESCO jährlich auf etwa 550 Gondeln durch die Kanäle Venedigs schaukeln.
Nur wenige von ihnen kennen aber die Geheimnisse, die sich hinter dem ikonischen Gondelbau verstecken. Venedigs Schatzkammer der Kunstfertigkeit zeigt sich auch von komplizierten Glasbläsertechniken bis zu künstlerischem Textil-, Papier- und Buchdruck.
Jetzt lädt Homo Faber mit "The Journey of Live", einer Reihe von Ausstellungen und Workshops in der Fondazione Giorgio Cini, sowie in Ateliers und Werkstätten in der Città ein, Künstler und Handwerker als Botschafter des Kunsthandwerks zu entdecken um auf seltene, vom Aussterben bedrohte Berufe, wie etwa die "Remèri" und Flaggenmaler, aufmerksam zu machen. Denn auch in der Lagunenstadt sind traditionelle Berufe vom Aussterben bedroht.
So wollen etwa die Glasbläser Muranos mit der "Venice Glass Week" auf ihr altes Kunsthandwerk aufmerksam machen.
Auch Venedigs bekannte Textilfabrik Fortuny schaffte zum 100. Geburtstag einen erfolgreichen Neustart: Architekt Alberto Torselli renovierte die ehemalige Villa Gozzi bei der Casa Fortuny, Interior-Designer Chahan Minassian richtete Fortuny + Chahan auf der Giudecca ein.
Dort werden die ikonischen Stoffe mit Renaissance-Mustern des Bühnenbildners und Modeschöpfers Mariano Fortuny, die Sarah Bernhardt schon in den 1920er-Jahren berühmt machte, bis heute handgewebt und durch junge Textildesigner ins Heute gebracht. Doch Venedigs Gondelbauer und Rudermacher werden immer weniger, und Flaggenmaler gibt es überhaupt nur noch einen.
Das wahre Herz der Gondolieri
Manche kunstaffine Gondelfahrer fragen sich beim Anblick einer bizarren Holzskulptur, in die der Gondoliere das Ruder steckt, ob das ein Objet d’art ist?
Die venezianische Forcola, die Rudergabel, wird aus Nussbaum-, Ahorn- oder Kirschbaumholz vom Remèr geschnitzt und ist die Seele jeder Gondel. "Ich bin kein Künstler, sondern ein traditioneller Handwerker", sagt Saverio Pastor. "Ohne die Forcola geht gar nichts. Die Rudergabel, das Herzstück der Gondel, wird nach Maß auf Beinhöhe für jeden Gondoliere extra gefertigt."
Deshalb montiert sie der Gondoliere auch ab und nimmt sie mit nach Hause, wenn die Gondel außer Dienst ist. Zu wertvoll ist das Stück Holz. "Das Schwierigste dabei ist, das Rohmaterial in ein fertiges Objekt zu verwandeln. Man muss eine Forcola schaffen, ohne das Boot vorher zu kennen, die den richtigen Biss hat. Denn sie wird genau an der Stelle im Boot angebracht, wo das Ruder sitzt", so der Meister, der seit 50 Jahren Ruder und Forcole an Gondolieri und Liebhaber des Wassersports liefert.
Demnächst übergibt er seinen Betrieb seinem Mitarbeiter Pietro Meneghini, der bereits 20 Jahre bei ihm lernte. "Er ist jetzt besser als ich", lacht Pastor. "Es gibt nur noch fünf Rudermacher in Venedig, das reicht gerade noch aus", so der Remèr.
"Aber ich mache mir Sorgen um eine Stadt mit immer weniger Einwohnern und einer Politik, die nicht versteht, dass das Wesen der Stadt das Wasser und die Lagune sind und die Stadt ruhiges Wasser braucht, um allen, die darin noch rudern, mit Respekt zu begegnen." Eine Stadt ohne Gondeln können sich Saverio Pastor und sein Nachfolger nicht vorstellen. Deshalb gründete er den Verein El Felze, ein Pool von Kunsthandwerkern, die am Gondelbau beteiligt sind, um ihn als Kulturerbe zu bewahren.
"Vor allem muss die Balance stimmen", so Pietro Meneghini, "die Gondel ist asymmetrisch gebaut, deshalb ist das Ruder so wichtig. Es ist immer 4,20 Meter lang." Diese werden aus "Ramin" und Buche geschnitzt. "Die Gondeln sind heute an jedem Ende höher gebaut als früher, weil die Wellen höher und mehr Boote unterwegs sind", sagt er und zeigt stolz auf eine rot-goldene Flagge, die er bei der Historischen Regatta in Venedig gewonnen hat.
Weltmeisterin im Flaggenmalen
"Heute bin ich schon um vier Uhr Früh aufgestanden", erzählt Anna Campagnari, "sonst werde ich nicht fertig, die nächste Historische Regatta findet in ein paar Tagen statt." Sie fertigt Gonfalone und dreieckige Bandiere an, die als Preise bei der "Regata Storica" vergeben werden. Als einzige Sportart gibt es hier vier Preise.
"Ich habe meine Flaggen selbst gemalt und die Regatta dann viermal damit gewonnen. Man braucht nur starke Oberarme", lacht Anaréta. Das Motto der Regattateilnehmerin und ehemaligen Segel-Weltmeisterin: "Wenn ich morgen sterbe, ist es besser, wenn ich heute noch etwas mache." Die letzte und einzige Flaggenmacherin und Textilmalerin der Lagunenstadt hat alle Hände voll zu tun. Sie produziert neben den Regatta-Fahnen auch große Wimpel, Polster und Banner.
Seit der Pandemie malt sie auch goldene Löwen, Venedigs Wahrzeichen, auf T-Shirts, Bandanas und Samtschuhe. Die Sportlerin und Textilmalerin eröffnete 2009 ihre Werkstatt im Palazzo Falier und bewahrte damit ein jahrhundertealtes Handwerk vor dem Aussterben.
Denn als der vormalige Flaggenmaler ankündigte, die rot-weiß-grün-blauen Flaggen nicht mehr herzustellen, wollte Anaréta den historischen Sport Venedigs nicht ohne seine traditionellen Preise sehen. Jetzt kommt alles, vom Zuschneiden der Stoffe bis zum Nähen, Zeichnen und Malen von Hand, der Fertigung der Stangen, Haken und Fransen, aus ihrer Werkstatt.
Ob sie sich Sorgen um die Zukunft ihres Berufes macht? "Ich hoffe, dass eines Tages eine meiner Töchter den Betrieb übernimmt. Denn wenn die Flaggen einmal industriell hergestellt werden, geht unser kulturelles Erbe verloren und damit eine Tradition Venedigs."
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