Stadtporträt Tartu: Ein Busserl am Rathausplatz

Neben Bad Ischl und Bodø in Norwegen ist Tartu europäische Kulturhauptstadt 2024. Was das für Veränderungen mit sich bringt und warum Küssen eine Hauptattraktion wird.

Die älteste Stadt des Baltikums ist eigentlich ein junges Dorf. Die rund 100.000 Einwohner haben ganz schön was zu feiern, denn nächstes Jahr ist das Dorf ein Ort von Welt.

Ein Küsschen zu Silvester? Am Rathausplatz in Tartu? Wie festlich. Für die Studierenden und das restliche Tartu – die Hälfte der Einwohner sind Studierende – ist das nichts Besonderes. Das können sie das ganze Jahr haben. Am Rathausplatz und drumherum schlägt zwar das alte Herz von Tartu, doch der Ort lässt auch junge Herzen höherschlagen. Dort ist das innig umschlungene Paar unter einem Regenschirm nicht zu übersehen. Die Küssenden – „kissing students“ – ist eine Brunnenskulptur, die auf Kopfsteinpflaster vor dem neobarocken, babyrosafarbenen Rathaus steht. Angefertigt wurde das Wahrzeichen der Stadt 1998 vom Bildhauer Mati Karmin.

Brunnen "Kissing Students"

©Getty Images/Borisb17/iStockphoto

Während an den Bronzefiguren die Wassertropfen abperlen, lädt der leidenschaftliche Kuss zum Nachahmen ein. Man schaut, man bleibt stehen und dann siegt die Leidenschaft über die Verlegenheit Vorbeischlendernder. Man gibt sich ein Busserl.

Schiefer als Pisas Turm

In Tartu wird also viel geschmust. Nach Tallinn ist sie Estlands zweitgrößte Stadt. Sie liegt im Süden des Landes und wird als geistiges Zentrum bezeichnet. Hier kann man an der ältesten Universität Nordeuropas studieren. Und das ganz in der Nähe des Rathausplatzes, wo sich auch sonst viel abspielt. Cafés, Restaurants und Bars reihen sich in der Fußgängerzone aneinander. Es gibt ein Museumsgebäude, das eine größere Neigung hat als Pisas schiefer Turm.

Schiefes Haus in Tartu

©Stefan Hofer

Auf dem Domberg hinter dem Rathaus stehen die Überreste der Domkirche aus dem 13. Jahrhundert. Auch ein beliebter Ort für Ruinen-Romantiker. Wer es nicht so öffentlich wie am Rathausplatz mag, kann sich hier in verborgene Ecken verziehen.

Tartu ist gar nicht so anders als Tallinn. Außer, dass es hier flächenmäßig mehr Studierende gibt. Und die bestimmen das Leben, mit ihrem Forschergeist, jugendlicher Frische, Partys und viel Kulturprogramm. Es gibt die Hansetage und das Liebesfilm-Festival tARTuFF – wen wundert das. Viele kreative Köpfe stecken hinter der Arbeit für das nächste Jahr, wenn das kleine Dorf zur internationalen Metropole wird. Und wo bereitet man sich auf das kommende Jahr vor?

Viele junge Menschen auf dem Gelände der Kreativhochburg Aparaaditehas. Neben Design- und Kunstgeschäften gibt es auch einige Restaurants

©Kristin Butz

Vermutlich auf dem Gelände der alten Fabriksanlage Aparaaditehas. Hier wurden zu Sowjetzeiten heimlich U-Boot-Teile hergestellt. Damit die Machenschaften nicht auffielen, gab man vor, eine Regenschirm- und Reißverschluss-Fabrik zu sein. Etwas außerhalb des Zentrums, im Vorort Raadi, befindet sich das estnische Nationalmuseum. Dieses wurde auf einer ehemaligen sowjetischen Militärflugbasis gebaut und beeindruckt architektonisch durch seine lang gestreckte Bauart, die aus der Landebahn wächst. Eine architektonische Geste, die anzeigen soll, wie Estland nach Ende der sowjetischen Vorherrschaft durchgestartet ist. Und das tut es immer noch.

Während des Livländischen Kriegs wurde die Domkirche zerstört. Die Ruinen sind ein auffälliges Beispiel der Backsteingotik in Alt-Livland

©Kristin Butz

Zurück zum bunten Treiben in der Kreativhochburg Aparaaditehas. Hier gibt es Straßenkunst und industrielles Interieur. Künstler und Designer werkeln in Ateliers. In Geschäften kann man Handwerksprodukte erwerben und bei einem Kaffee pausieren. Ein Laden fällt zunächst gar nicht auf. Erst beim Nähertreten kann man reinschauen und blickt auf einen schwarzen, fast leeren Raum. In der Mitte stutzt ein ebenso schwarz gekleideter Mann die Frisur eines Jungen.

©Grafik

Kulturhauptstadt 2024

Aus den Boxen tönt basslastiger Beat der Berliner Band Moderat. Egal, ob Café, Restaurant, Shop oder eben Friseur, man staunt über die Einrichtungskonzepte. Auf dem Gelände finden ganzjährig Veranstaltungen statt – unabhängig vom Kulturhauptstadtprogramm.

Apropos: Jan Ulst und Aleksandr Kadeev, zwei Mitarbeitende des Projekts, sind sehr aufgeregt. Vieles muss organisiert werden. Das ist nicht einfach mit Russland als Nachbarn. Ein Viertel des Landes plant mit und steht angesichts des Krieges vor Herausforderungen.

Russische Künstler- und Musikergruppen wurden aus dem Programm genommen. Aber die Vorfreude überwiegt bei Jan und Aleksandr. Sie erwarten einen Ansturm auf Tartu und ganz Südestland, wo auch Events stattfinden werden. Seit fünf Jahren arbeitet das Team an mehr als 350 Projekten. Über tausend Veranstaltungen sind für 2024 geplant. Unter dem Motto „Arts of Survival“ steht der Überlebenskampf der Kultur und Künste im Vordergrund: „Wie geht es der Szene seit der Pandemie? Wie überleben Theater, Musik, Literatur und der Tanz?“ Alle Veranstaltungen werden nachhaltig organisiert. Auf Plastik wird vollkommen verzichtet. Und es wird rein vegetarische Produkte aus der lokalen Umgebung geben.

Wer die junge Hansestadt besuchen möchte, kommt also am besten 2024. Die Eröffnung ist am 26. Januar. Und auch das Schmusen darf nicht fehlen. Ende Mai 2024 wird das Massenkuss-Event „Kissing Tartu“ mit Conchita Wurst stattfinden. Und dafür bietet sich kein anderer Ort besser an, als das romantische Symbol der Stadt: der Rathausplatz mit der küssenden Bronzestatue.

Wichtige Infos

Anreise

Wien–Tallinn mit Austrian. Dann mit dem Zug 2 Std. von Tallinn nach Tartu weiterreisen. - Kompensation mit atmosfair.de: 19 €

Unterkunft: 

Das Soho Hotel liegt in der Altstadt und ist modern ausgestattet, hotellsoho.ee

Restaurants

– Kampus, in der Fußgängerzone, kampustartu.ee
– Vein ja Vine, die Weinbar ist rustikal ungezwungen. Der Wein wird gezapft. veinjavine.ee
– Kolm Tilli ist auf dem Aparaaditehas-Gelände. Verrückte Einrichtung und gute Pizza, sevensons.ee/ en/ places/kolm-tilli
– Das Humal ist Bar, Restaurant und Pub in einem, 

humalresto.ee/en

Auskunft

visitestonia.com/de/

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