Piestingtal: Vor dem Schneeberg wird die Fantasie entfesselt

Freigeister und Künstler entdecken das Piestingtal. Hier leben sie ihre Kreativität aus. Wer sie sucht, findet Ruhe in engen Seitentälern.

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Region

Industrieviertel, Niederösterreich

Anraise

Mit dem Zug nach Gutenstein - in Wiener Neustadt umsteigen

Mit dem Auto über die Südautobahn A2, Abfahrt Wöllersdorf

Der Bach plätschert, der Wald rauscht im Wind. Sonst herrscht Stille im Nebental Steinapiesting bei Gutenstein, bis die Lampenmacherin Brigitta Kellner sagt: „Es ist diese Ruhe, die viele anlockt.“ Der Weg zu ihr  – in ein ehemaliges Wirtshaus –  führt über die Lange Brücke, durch eine enge Schlucht. Wer sie überquert hat, ist in einer anderen Welt. Hoch oben thront die Burgruine.

Die Lange Brücke führt nach Gutenstein -  von der Steinapiesting kommend

©Katharina Salzer

Kellner ist eine Tirolerin in Niederösterreich und  nicht die einzige Künstlerin, die sich das Piestingtal als neue Heimat ausgesucht hat.   Freigeister, Lebenskünstler, Handwerker, Menschen mit Visionen wandern zu.  Es scheint, als würde die Landschaft die Fantasie entfesseln. 

Johannes Krisch und der Geist

Bei den Raimundfestspielen in Gutenstein gehört das Traumbild immer mit dazu, heuer ist es in das Theaterstück  „Die gefesselte Phantasie“ geschnürt. Die Ruhe im hinteren Piestingtal wird plötzlich durchbrochen.  Nicht nur durch Motorräder. Theaterdonner grollt durch den Schlosspark, wo das Theaterzelt aufgebaut ist. „Das alles lebt vom Geist Raimunds“, sagt Johannes Krisch, Intendant der Festspiele und schaut sich um.  Vor ihm die Piesting, hinter dem Zelt das Schloss. Den Geist gibt’s vielleicht wirklich. „Wenn nichts geht, schleicht der Raimund ums Zelt und ist für das Festival da“, erzählt Krisch über die Probenzeit. 

©Katharina Salzer

Traumverloren

Warum Raimund in Gutenstein? Der Dichter war viel in den Wäldern und auf den Bergen – heute Wiener Alpen genannt – unterwegs. 1834 erwarb er ein Landhaus in Pernitz. Aber lange konnte er den Wohnsitz nicht genießen. Zwei Jahre nach dem Kauf wurde er von einem Hund gebissen. Aus der Angst vor Tollwut  unternahm er einen Selbstmordversuch, an dem er wenig später starb. Raimund wünschte sich, auf dem Gutensteiner Bergfriedhof begraben zu werden. So geschah es. 

Raimundgrab auf dem Bergfriedhof.

©Katharina Salzer

Die Raimundvilla steht heute noch, doch sie befindet sich im Privatbesitz und bleibt Besuchern verschlossen.  Aber das Plätzchen, wo der Dichter gesessen haben soll, um traumverloren die Landschaft zu betrachten, steht jedem offen. Es ist am Mariahilfberg,  unweit des Servitenklosters. Der Blick  auf den Schneeberg öffnet sich. Der Nebel steigt nach dem Regen aus den Tälern auf.

Es scheint, als würde der Wald nie enden.

Das Servitenkloster auf dem Mariahilfberg

©Wikimedia Commons/Bwag, CC BY-SA 4.0

Der Schneeberg, der höchste Berg Niederösterreichs, ist ein prägendes Element der Landschaft. Wer wandern oder spazieren geht, wird ihn sehen. Von der Alm Mamauwiese aus ist er ganz nah, vom Etschenberg ein bisserl weiter weg. Aber immer da.
 

Die Wolken hängen tief beim Spaziergang zum Etschenberg.  Die Jacke wird zugeknöpft. Nicht nur die Hügel und Berge machen es kühl, auch die Bäche und Quellen. „Es sind 67“, sagt Adolf Berger, hebt seinen Dackel auf und geht durch seinen Garten. „Die Natur, so etwas hast nur hier“, erklärt er.  Den 84-Jährigen kennt man im Tal –  und seine Installationen. Er schafft Waldmänner aus Baumstämmen, ein Einhorn aus einem großen Felsen, den Erlkönig, keltische Wegweiser, Feen.

Bekannt im Tal: Adolf Berger

©Kurier/Juerg Christandl

Berger selbst kennt das Tal, wohl fast jeden Stein. Zu erzählen hat er genug. Nicht nur über Kelten, sondern auch, wo André Heller seine Sommer verbracht hat. Der Universalkünstler wohnte bei seiner Großmutter. „Hinter dem Haus geht die Bieglbauernhöhe hinauf, die Kühe schauen über den Zaun, man ist ganz in der Natur. Dort war ich selig, weil ich ernst genommen wurde“, erklärte Heller in einem Interview.

Sommerfrisch

Kuriose Fakten. Wusstet ihr dass …

 ... viele Figuren in Ferdinand Raimunds Theaterstücken Bürger und Bürgerinnen aus Gutenstein zum Vorbild hatten?
… der Alpenlachs  im Schneebergland „erfunden“ wurde? Peter Brauchl züchtete hier die ersten dieser Fische im klaren Wasser.
… Michaela Dorfmeister am Unterberg Skifahren lernte? Sie gewann später viele Weltcup-Rennen. Übrigens: Hier gibt’s nur Naturschnee.

Berger zieht seinen  Hut tiefer. Es beginnt zu regnen. Sommerfrische kann auch so sein.  Die alten Villen im Tal zeugen von Zeiten, als  die Wiener Bürger, die Reichen aus der Stadt, Zerstreuung auf dem Land gesucht hatten. Türmchen und Fähnchen, Balkone und Veranden schmücken sie. Bis in die tiefsten Gräben wurden sie gebaut.

Eine der Villen in Gutenstein

©Katharina Salzer

Man erzählt sich, ein Kohlehändler habe einen Platz gesucht, um einen Weltkrieg zu überleben. Ein Wahrsager hat diesen in Urgersbach gefunden. Wenn es nicht stimmt, ist es gut erfunden. Fest steht: David Berl ließ sich das schlossähnliche Gebäude errichten. Es ist gut in Schuss. Im  Garten stolzieren heute Pfaue und Schwäne schwimmen im  Teich.  

Von reich zu arm

Die meisten im Tal haben es billiger gegeben. Die Bauern lebten vom Wald. Baumharz, auch Pech genannt,  tropfte aus den Föhren, aus dem Holz wurde Kohle.  Einige pflegen die Traditionen. In Rohr im Gebirge stehen die Meiler. Die Köhlerei ist eine Drecksarbeit mit immer schwarzen Händen. Doch die Grillkohle ist die beste. In der Region wird auch Pech verarbeitet, etwa zu Seifen. Wie Harz gewonnen wird, kann man bei der Familie Rendl in Waidmannsfeld lernen. Köhlerei und Pecherei sind übrigens  immaterielles Kulturerbe. 

Pecherei der Familie Rendl.

©Privat

Zurück zum Ursprung versuchen auch andere zu kommen.  Auf moderne Weise. „Wohnwagon“ zog nach Gutenstein und baut Tiny Houses, wo autarkes Leben möglich ist.  Die kleinen Häuser sind aus Holz und können wie ein Wohnwagen auch versetzt werden. Wohnwagon hat auch noch ein anderes Projekt mit ins Tal gebracht: In der Dorfschmiede will die  Gemeinschaft ein  Dorf der Zukunft gestalten. Sie hat schon losgelegt.

Die Mitglieder scheinen ein wenig anders auszuschauen, als man es im Tal gewohnt ist oder besser gesagt war.  „Sads es von de Wohnwagon?“, fragte ein Mann in jägergrün noch vor einem Jahr. Er hat wohl viele fragen müssen. Denn es fahren Besucher ins Piestingtal, um sich  das Projekt anzuschauen.

Das Bild eines Wohnwagons aus dem Buch: „Wie wir leben könnten“ von Theresa Mai, der Chefin.

©Daniel Zangerl / Wohnwagon

Wer will, kann in einem der Tiny Houses übernachten. In der Steinapiesting, gleich neben Frau Kellner, die auch Zimmer vermietet. „Viele kommen schon wegen Digital Detox“, sagt Christoph Heinemann, Projektmanager bei Wohnwagon, Deutscher und Neo-Gutensteiner. Das gibt‘s ohnehin, ob sie wollen oder nicht. Weil Handyempfang in der Steinapiesting  – Fehlanzeige.  
Dann nach der Ruhephase tut es auch gut, wieder zu fahren. Über die Lange Brücke, durch den schmalen Spalt in den Felsen hindurch. Raus aus dem Tal.

Mondän

Ein Zwischenstopp sind die Myrafälle bei Muggendorf. Hier ist von Einsamkeit keine Rede mehr. Sie sind ein Besucher-Hotspot, vorausgesetzt das Wasser fließt: Denn die Trockenheit der vergangenen Zeit setzte den Myrafällen zu.  

©Wiener Alpen/Christian Kremsl

Und weiter geht’s in eine mondäne Welt. Das Thermalbad Bad Fischau-Brunn – nicht mehr Piestingtal, aber ganz nah – bietet sich für einen Badestopp an.

©Marktgemeinde Bad Fischau-Brunn/Michael Horowitz

Achtung: Thermal ist nicht gleich bedeutend mit warm. Das Quellwasser fließt (wenn die Trockenheit nicht zu arg ist) in die Becken. Kalt, aber wunderschön. Einmal noch abtauchen und dann zurück in den Alltag. Das Handy funktioniert wieder.

Leider.

Katharina Salzer

Über Katharina Salzer

Katharina Salzer begann 1999 im KURIER und war viele Jahre für die Chronik in Niederösterreich unterwegs. Sie war stellvertretende Chronik-Ressortleiterin, bis sie 2019 in das Sonntags-Ressort wechselte.

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