Heiße Kufen, heiße Kurven: Besuch in der ersten Rodelschule Tirols
Eines der größten zusammenhängenden Skigebiete Österreichs ist die Region Wilder Kaiser-Brixental. Man kann dort aber auch auf einer Rodel ins Tal sausen.
Latoya fliegt auf die Kurve zu. „Bremsen!“, schreit Marianne Treichl. „Es geht nicht!“, schreit Latoya zurück. Im letzten Moment gelingt es ihr, den Schlitten zum Stehen zu bringen. Als sie aufblickt, fällt ihr die große Tanne fast ins Gesicht, so bedrohlich nahe ist sie ihr gekommen. „So geht das nicht“, schimpft Rodel-Lehrerin Marianne. „Mit deinen Schuhen ohne Profilsohle kann man ins Büro gehen, aber nicht auf eine Schlittenbahn. Die sind glatt wie ein Kinderpopo. Wir tauschen jetzt!“
Siehe da, auf einmal meistert die Mitarbeiterin einer Innsbrucker Steuerkanzlei die Kurven der „Hexenritt“ getauften Strecke sehr souverän. Ihre eben noch vor Angst aufgerissenen Augen strahlen jetzt. Auch Marianne Treichl kann sich entspannen: „Wie Latoya geht es vielen. Einige Technik- und Ausrüstungstipps wirken oft Wunder. Man darf nur nicht denken: Rodeln kann doch jeder.“
Trotzdem ist ein Kurs eine gute Idee. Ein Blick auf die Unfallstatistik zeigt, dass Schlittenfahren auf richtigen Bahnen mit mehreren Kilometern Länge und Hunderten Metern Höhenunterschied nicht ganz ungefährlich ist: In Österreich passieren jeden Winter bis zu viertausend Rodelunfälle, bei jedem zweiten brechen Knochen.
Dank Marianne bricht heute nichts. Die Mitarbeiterin der Bergbahnen in Söll wuchs mit fünf Brüdern auf einem Hof auf. Da ging es oft rustikaler zu. Wenn sie ins Tal wollte, setzte sie sich auf einen Schlitten. Später fuhr sie Hobbyrennen. Und wurde von Gästen gefragt, wo man denn Rodeln offiziell lernen könne. Marianne begann zu recherchieren. Es gibt zwar einen Verband, aber der fühlt sich vor allem für Wettkampfrodeln im Eiskanal zuständig. Eine richtige Rodelschule fand sie in Österreich nicht, nur in der Schweiz und in Italien.
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Und so ging im Winter 2014 Mariannes eigene Kufen-Akademie an den Start. Jeder Kurs beginnt mit Übungen auf der Skipiste. Erste Regel: Man „parkt“ die Rodel so, dass sie sich nicht selbstständig macht. Zweite Regel: Beim Bremsen benutzt man die ganze Sohle, nicht nur die Ferse. Drittens, das Lenken: rechtes Bein in den Schnee, Schlitten fährt nach rechts. „Wenn ihr euch in die Kurve legt und mit der äußeren Hand die Schnur nach innen zieht, geht es noch besser“, verrät Marianne. „Bremsen und Steuern mit der Hand im Schnee überlassen wir aber den Profis. Das wäre zu gefährlich.“
Dann wäre da noch die Schussfahrt: Sitzposition locker und mittig, Oberkörper leicht nach hinten legen. Marianne ergänzt: „Die Füße gehören nicht nach innen eingestülpt, bei einem Sturz brichst du dir so das Bein. Nimm’ deine Haxen auf die Außenseite des Schlittens und lehne sie nur leicht an.“ Zur Ausrüstung gehören Helm, Skibrille, Handschuhe und Skihose, eventuell eine Warnweste, vor allem aber: hohe Schuhe mit griffigem Profil. „Skischuhe sind deshalb ungeeignet.“ Wer alte Bergstiefel übrig hat, kann sich eigene Rodelschuhe bauen: Einfach kurze Schrauben eindrehen – als Spikes.
Mit der Gondel geht es zur Mittelstation an der Hohen Salve. Zwei Minuten und eine Kurve später ist die Innsbruckerin Latoya ziemlich weiß im Gesicht. Die Tanne vor ihrer Nase und der gähnende Abgrund dahinter haben Eindruck auf sie gemacht. Und Marianne, die sonst nichts schnell aus der Ruhe bringt, macht sich ernsthaft Sorgen: „Was du machst, ist ein unkontrolliertes Irgendwas!“ Nach dem Schuh-Tausch steuert Latoya ihren Schlitten souverän.
Bei der Hälfte der Abfahrt gibt Marianne eine Streckeninfo: „Es wird steiler. Und wir durchfahren einen Tunnel. Zuletzt kommen wir noch einmal in den Wald. Latoya, Wald, heißt vor allem: Bäume!“ Die Rodel-Lehrerin erinnert daran, dass es auf Rodelstrecken keine FIS-Regeln wie auf Skipisten gibt: „Beim Überholen seid ihr dafür verantwortlich, dass die Vorderfrau nicht gefährdet wird. Und eisigen Stellen weicht ihr besser auf eine griffige Linie aus.“
An der Talstation schauen sieben Rodel-Schüler ihre Lehrerin mit erwartungsvollen Augen an. Übersetzt heißt das: „Noch einmal, bitte!“
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