Guido Tartarotti

"Überleben": Beim Lesen vergesse ich die Zeit

Dabei ist Lesen die beste Möglichkeit, nichts zu machen und doch sehr viel zu tun.

Ich sitze seit Stunden in einem Park auf einer Bank und lese. Der Baum über mir spendet angenehmen Halbschatten und manchmal raschelt er leise im Wind. Vielleicht liest er ja mit. Eine alte Frau auf einer anderen Bank schaut mich irritiert an. Vielleicht wundert sie sich, dass ich so lange lesen kann und nichts Produktives unternehme. Dabei ist Lesen die beste Möglichkeit, nichts zu machen und doch sehr viel zu tun. Beim Lesen vergesse ich die Zeit, und die Zeit hat nichts dagegen.

Ich lese Dirk Stermanns großartiges Buch "Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen". Meine wunderbare Cousine Claudia hat mir das Buch geschenkt. Es basiert auf Gesprächen mit der bewundernswerten jüdischen Denkerin Erika Freeman. Freeman musste als Kind vor den Nazis aus Wien fliehen, wurde später als Psychoanalytikerin in New York berühmt und arbeitete mit vielen Stars. Typisch für Freeman ist ihr unerschütterlicher Optimismus, ihr nicht zu bezwingender Wille, das Leben schön zu finden. Das Buch ist nicht nur sehr klug, sondern auch enorm witzig, ein paar Mal muss ich beim Lesen laut lachen. Die alte Frau schaut noch irritierter.

Freemans Herz gehört den Künstlern, an einer Stelle sagt sie im Buch zu Stermann: "Weißt du, ihr sprecht wie alle anderen, seid aber nicht wie alle anderen. Künstler haben etwas Spezielles, some special nuance, ihr seid sensibel, which you don’t show, of course. And you can see things or understand things which most people don’t even know exist."

Und ich denke mir: Sie hat recht. Dafür haben wir die Künstler, weil sie Dinge sehen und verstehen, von denen die meisten Leute nicht wissen, dass sie überhaupt existieren.

Plötzlich merke ich, dass die Sonne untergeht. Ich habe den ganzen Tag auf dieser Parkbank verbracht und das Buch in einem Zug ausgelesen. Bin ich jetzt schlauer als vorher? Ich hoffe es. Niemand hindert mich daran.

Guido Tartarotti

Über Guido Tartarotti

Guido Tartarotti wurde, ohne vorher um Erlaubnis gefragt worden zu sein, am 23. Mai 1968 zur Mödlinger Welt gebracht. Seine Eltern sind Lehrer, und das prägte ihn: Im anerzogenen Wunsch, stets korrekt und dialektfrei zu sprechen, glaubte er bis in die Pubertät, Vösendorf heiße eigentlich Felsendorf. Das Gymnasium Perchtoldsdorf, wo es damals u. a. eine strenge Einbahnregelung für die Stiegenhäuser gab, verzichtete nach einigen Verhaltensoriginalitäten seinerseits nach der fünften Klasse auf seine weitere Mitarbeit. Also maturierte er in der AHS Mödling-Keimgasse. 1990 begann er in der KURIER-Chronikredaktion. 1994 wurde er Leiter der Medienredaktion, ein Jahr darauf auch der Kulturredaktion. Beide Positionen legte er 2004 zurück, um wieder mehr Zeit zum Schreiben zu haben.

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